Das Leben als 13-Jähriger in Afghanistan

Wenn man 13 Jahre alt ist und in Afghanistan lebt, dann hat man sein ganzes bisheriges Leben in Konflikt und Krieg verbracht. Mit großer Wahrscheinlichkeit läuft man Gefahr, vertrieben zu werden, oder lebt bereits als Vertriebener. Dies ist das Leben des 13-jährigen Akhtar Mohammed.

Wenn man 13 Jahre alt ist und in Afghanistan lebt, dann hat man sein ganzes bisheriges Leben in Konflikt und Krieg verbracht. Mit großer Wahrscheinlichkeit läuft man Gefahr, vertrieben zu werden, oder lebt bereits als Vertriebener. Dies ist das Leben des 13-jährigen Akhtar Mohammed.

Wir treffen ihn frühmorgens nach einer klirrend kalten Nacht mit heftigem Schneefall. Ein weißer, weicher Schneeteppich bedeckt die provisorischen Zelte in dieser inoffiziellen Siedlung außerhalb des westlichen Teils der Hauptstadt Kabul. In der Siedlung leben etwa 50 Familien. Viele der Familien haben bereits viele Jahre als Geflüchtete in Pakistan gelebt, bevor sie zurückgekehrt sind.

Akhtar und seine Familie sind vor etwa zweieinhalb Jahren vor dem Konflikt aus der Provinz Kunduz geflohen. Er hat fünf Geschwister. Der 13-Jährige arbeitet zusammen mit seinem Vater auf den Straßen von Kabul. Sie sammeln Müll.

Seit Anfang 2015 sind etwa 3 Millionen afghanische Geflüchtete aus dem Iran und Pakistan wieder nach Afghanistan zurückgekehrt, häufig in eine unsichere Zukunft, so das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA).

Sieben von zehn afghanischen Flüchtlingen, die nach Hause zurückkehren, müssen einem Bericht von NRC Flüchtlingshilfe und Samuel Hall zufolge aufgrund von Gewalt erneut fliehen. Viele von ihnen sind nun Binnenvertriebene.

 

Kinder sind nach wie vor überproportional von der Krise betroffen

Kinder unter 18, die über als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ausmachen, sind nach wie vor überproportional von der Krise betroffen.

Anhaltende Gewalt, Diskriminierung und die Verweigerung von grundlegenden Dienstleistungen – insbesondere medizinische Versorgung und Bildung – untergraben ihr Recht auf eine sichere und geschützte erste Umgebung und beeinträchtigen ihre körperliche und psychische Gesundheit.

Darüber hinaus hat eine schwere Dürre rund 3,9 Millionen in den ländlichen Regionen des Landes von Nahrungsmittelhilfe und Existenzsicherung abhängig gemacht und im Westen eine schwere Vertreibungskrise ausgelöst.

Wenn man 13 Jahre alt ist und in Afghanistan lebt, ist man vielen Gefahren ausgesetzt:

ZWEI DRITTEL: Fast zwei Drittel aller Menschen in Afghanistan leben in Regionen, die direkt vom Konflikt betroffen sind. Über die Hälfte von ihnen sind unter 18. Diese zwei Jungen betreten eine Zeltsiedlung für Vertriebene in der Provinz Badghis. Foto: Enayatullah Azad/NRC

#1: Fast zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung leben in Regionen, die direkt vom Konflikt betroffen sind

Über die Hälfte von ihnen sind unter 18 (47,3 Prozent der 35,7 Millionen Menschen in Afghanistan sind jünger als 15). Sie sind außerdem Gewalt, Zwangsvertreibung und dem Verlust wichtiger Lebensgrundlagen und begrenztem Zugang zu Grundversorgungsleistungen ausgesetzt.

Bashir Ahamd, 14, in front of his tent in Feristan IDP settlement.

Temperature drops to zero during the nights and there are also sporadic rains and the displaced people in Feristan are forced to continue to live in a small size makeshift tents struggling with cold, hunger and shelters. 
NRC has just started helping these people with warmer waterproof tents. Families who could go or can hire a room in the city will be assisted with wentirazations and those can’t go back home and are not able to rent a house will be assisted with tents and NFI. Photo: NRC/Enayatullah Azad
LEBEM IM ZELT. Bashir, 14, und seine Familie wurden vom Konflikt und der Dürre vertrieben. Sie leben in einer Zeltsiedlung in der Provinz Badghis. Foto: Enayatullah Azad/NRC

 

#2: Pro Minute muss in Afghanistan ein Mensch aufgrund des Konflikts fliehen.

 Laut OCHA werden im Jahr 2018 schätzungsweise 500.000 weitere Menschen aus Afghanistan vor dem Konflikt fliehen müssen. Über die Hälfte von ihnen wird unter 18 sein.

Zudem könnten bis zu 300.000 Menschen durch die Dürre entwurzelt werden, darunter auch ein Teil der bereits im Vorjahr vertriebenen Menschen.

Nazia, 11, taking care of her little sister Palwasha, wrapped in a thick blanket in one of the informal settlements in Kabul. The children are experiencing their third winter in this settlement. photo: NRC/Enayatullah Azad
DER DRITTE WINTER. Nazia, 11, kümmert sich in einer der inoffiziellen Siedlungen in Kabul um ihre kleine Schwester Palwasha, die in eine dicke Decke eingewickelt ist. Die Kinder erleben bereits ihren dritten Winter in dieser Siedlung. Foto: Enayatullah Azad/NRC

 

#3: Über eine Million Vertriebene leben in inoffiziellen Siedlungen.

Über 1,2 Millionen Binnenvertriebene in ganz Afghanistan leben in inoffiziellen Siedlungen. Über die Hälfte sind Kinder.

Bis zu zwei Drittel aller Vertriebenen außerhalb ihrer Heimatprovinz ziehen in die fünf Regionalhauptstädte Kabul, Nangarhar, Kandahar, Balkh und Herat.

From right to left: Naseema, 9, Gul Ghotay's daughter and her friends, Dunya Gul and Mohammad Arif, warming their fingers in a cold day in Feristan IDP settlement in Qala-i-naw, Badghis. PHoto: NRC/Enayatullah Azad
KLIRRENDE KÄLTE. Mohammad, Dunya und Naseema versuchen, sich am offenen Feuer zu wärmen. Ihre Familien wurden vom Konflikt und der Dürre vertrieben. Derzeit leben sie in sie in einer Zeltsiedlung in der Provinz Badghis. Foto: Enayatullah Azad/NRC

 

#4: Sechs von zehn Menschen, die humanitäre Hilfe und Schutz brauchen, sind Kinder.

6,3 Millionen Menschen brauchen irgendeine Form von humanitärer Hilfe und Schutz. 60 Prozent davon sind Kinder. Darunter sind 3,7 Millionen mit hohem, akutem Bedarf.

The displaced children sweeping snow off around their makeshift tents in Kabul to stop them from sliding when it’s frozen. 
The first snowfall of the year is a happy news for millions of Afghans that have been badly hit by drought, but it adds misery to the life of thousands more living inside a plastic sheeting in the informal settlements in and around Kabul. 

"I was collecting scraps on the street and now the streets are blanketed with snowfall and we can't find things. i have stayed back at home and I will go back on the streets when the snow is melted," Said Agha Omar, 12. 

None of the children on the picture go to school. They are busy collecting plastics, papers and cans on the street. 
PHoto: NRC/Enayatullah Azad
KEINE SCHULBILDUNG. Agha Omar, 12, schaufelt den Schnee rund um das provisorische Zelt in Kabul. Keins der Kinder auf dem Foto geht zur Schule. Foto: Enayatullah Azad/NRC

 

#5: 3,7 Millionen Kinder gehen nicht mehr zur Schule

60 Prozent der 3,7 Millionen Kindern in Afghanistan, die nicht mehr zur Schule gehen, sind Mädchen. In manchen Provinzen gehen 85 Prozent der Mädchen nicht zur Schule.

Über 1.000 Schulen mussten aufgrund der unsicheren Lage im Jahr 2018 geschlossen werden. Über 545.000 Kinder waren davon betroffen.

Lesen Sie dazu auch den Bericht von NRC Flüchtlingshilfe Education in Emergencies, Children in Distress. (englisch)

Nazoo, 36, and her five children have been forced to flee from Qadis district to seek survival in provincial city of Qala-e-naw. Nazoo’s husband has gone to Iran for work and she alone takes care of her children. 

“When grass didn’t grow anymore and the water sources dried up, we understood that we must have a difficult year ahead. My husband sold out the livestock we had at home. He saved some cash for us and with the rest, he traveled to Iran.”

“Later, when we weren’t able to find anything to eat, along with other villagers we also decided to leave the home behind and come to Qala-i-naw.” 

“We could only bring some blankets, plates and teapots with us and the rest of our things are stored at home. I’m alone here and don’t have any roof over my head. I would like to go back home as soon as there is some hope.” 

“It has been two years that we live in this desert without any shelter and we have only received a bag of flour. I’m preparing seven to eight Naan everyday and that’s the only thing we eat with some tea or water.” 

“You can see, there is no shop here to buy some vegetables or rice, even if there was some, we wouldn’t be able to buy because we are running out of money," she ended. 

Photo: NRC/Enayatullah Azad
VON NAHRUNGSMITTELHILFE ANHÄNGIG. Nazoo, 36, und ihre Familie musste ihr Zuhause wegen des Konflikts und der Dürre verlassen. Jetzt leben sie in einer Zeltsiedlung außerhalb der Hauptstadt Badghis und sind zum Überleben auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Foto: Enayatullah Azad/NRC

 

Nr. 6: 4,5 Millionen Menschen benötigen dringend Nahrungsmittel und Hilfe für ihren Lebensunterhalt.

Die verschlechterte Sicherheitslage und die schlimmste Dürre seit Bestehen haben zu einer weitreichenden Ernährungsunsicherheit geführt. Nach Schätzungen von OCHA benötigen im Jahr 2019 insgesamt 4,5 Millionen Menschen dringend Nahrungsmittel und Unterstützung für den Lebensunterhalt.

Sultana, 24, (right in blue) and Hajira, 32, (left in dotted red)

 Sultana lost her three months daughter due to cold in one of the IDP settlement in Badghis, Afghanistan. The family have forced to come from Kharistan area to Qala-e-naw city due to sever drought some two months ago. 

"My little was fine before we left the village. We came here and slept in the open with only a tarpaulin over our head. My daughter got pneumonia at the beginning and latter she died," said her mother grieving.

"She cries all the day and often comes here to talk to me and forget about her daughter," Hajira mother of five said.

"She lost her daughter due to cold and it made me worried not losing my children," she adds. 

Hajira has five children and also a seven months pregnant. She asks for immediate shelter and winterization assistance as winter is looming. 

"We can't go back to our home because we can't find even a drop water as all wells and water sources have dried up," she said when we asked if they are planning to go back. Though the family do not have proper shelter in Sanjetak settlement, but they have been provided with water tracking and water tanks. 
PHoto: NRC/Enayatullah Azad
TOCHTER GESTORBEN. Sultana (in Blau) musste vor Kurzem ihre jüngste Tochter begraben. „Wir kamen hierher und schliefen unter freiem Himmel, wir hatten lediglich eine Plane über uns. Meine Tochter bekam eine Lungenentzündung. Dann starb sie“, erzählt die junge Mutter unter Tränen. Foto: Enayatullah Azad/NRC

 

#7: Drei von zehn haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung

Insgesamt haben 30 Prozent aller Menschen in Afghanistan keinerlei Zugang zu medizinischer Versorgung. Diejenigen, die in schwer zugänglichen Regionen leben, sind davon am ehesten betroffen.

#8: Über 2.000 Kinder wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2018 getötet oder verletzt

Obwohl die Anzahl der Kinder, die getötet oder verletzt wurden, insgesamt zurückgegangen ist, ist die Zahl mit 2.136 Opfern immer noch extrem hoch. Besonders besorgniserregend ist die ansteigende Zahl der Todesfälle durch Luftangriffe und Selbstmordattentate, die mittlerweile bei 49, bzw. 10 Prozent liegt.

Accelerated Learning Program (ALP) in Pirawar Bila center in Behsud district, Nangarhar province, Eastern Afghanistan. 

The students are now in grade 3. They all started the programme in August 2015, a year ago.
 
All of these children are undocumented  returnees from Pakistan. Most of them are from families who were originally from Kunar and came back to Afghanistan during the last 5 years.
ANGRIFFE AUF SCHULEN. Das Foto zeigt Schüler, die an unserem beschleunigten Lernprogramm in der Provinz Nangahar im Osten Afghanistans teilnehmen. In derselben Provinz wurde eine andere Schule, die Malikyar Hotak High School, im Juni 2018 angegriffen. Unbekannte Männer drangen in die Schule ein, enthaupteten drei Wachen und setzten den Verwaltungsblock in Brand. Foto: Sandra Calligaro/NRC

 

#9: Kinder tragen psychischen Schaden davon

Zusätzlich zu den körperlichen Verletzungen, die Kinder erleiden, sind auch die psychischen Schäden durch die erlebten Stresssituationen erheblich. Kinder, die Zeugen extremer Gewalt waren, einschließlich Morde oder Verstümmelungen an Familienmitgliedern, berichten häufig von gestörten Erinnerungen, Schlafstörungen, Stummheit, Konzentrationsschwierigkeiten und aggressivem Verhalten. Nur 2 von 10 haben Zugang zu psychologischer Unterstützung.

Naqibullah, 13, fled Kunduz with his eleven siblings two and half years ago, when the Kunduz provincial city was fallen to the Taliban. 
Naqib and his family now live in a shelter was built on a rented yard by NRC. His family was provided with protection through secure tenure for a defined period of time and essential household items. His family was provided with access to safe household latrines and hand washing facilities and have access to sanitary latrines and received hygiene promotion trainings.
But Naqib and none of his siblings are now having the chance to attend school. Naqib was in second class when his family was forced to return to Afghanistan. It’s been four years now that he has been missed out classes. 
Instead of attending class, he drives through the city with his bicycle and collecting scraps to help with family’s financial situation. 
“There is no hope and I don’t have any future if I continue living in this situation. I don’t know about my future. Maybe I will simply be a laborer.” 
Photo; NRC/Enayatullah Azad
KEINE ZUKUFNT. Naqibullah, 13, floh vor fast drei Jahren mit seiner Familie aus der Provinz Kunduz. Anstatt zur Schule zu gehen, fährt er mit dem Fahrrad durch Kabul und sammelt Abfall, um seiner Familie zu helfen. „Es gibt keine Hoffnung und ich habe keine Zukunft, wenn ich weiter so leben muss. Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussehen wird. Vielleicht werde ich einfach ein Arbeiter sein.“ Foto: NRC/Enayatullah Azad

 

#10: Über die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze

Schätzungsweise 54 Prozent der afghanischen Bevölkerung leben derzeit unterhalb der Armutsgrenze (was einem Anstieg von 16 Prozent über die letzten fünf Jahre entspricht). Zudem wird erwartet, dass bis zum Jahr 2025 480.000-600.000 junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten werden. Das ist weit mehr, als die Wirtschaft aufnehmen kann. Etwa 500.000 junge Männer sind schon jetzt arbeitslos und 71 Prozent der jungen Menschen nennen Arbeitslosigkeit als ihr größtes Problem.

 

Quelle: OCHA-Bericht Humanitarian Needs Overview 2019.