Afghanistan

Am Rande einer schweren humanitären Krise

Der eskalierende Konflikt in Afghanistan bedeutet für Millionen Afghaninnen und Afghanen im ganzen Land großes Leid und erhöhten humanitären Bedarf.

Die Folgen der zunehmenden Gewalt zwischen den Taliban und der afghanischen Armee in den letzten Tagen zwingen Tausende Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden seit Jahresbeginn schätzungsweise 390.000 Menschen vertrieben, die tatsächliche Zahl könnte jedoch weitaus höher liegen.

Insgesamt liegt die Zahl der vertriebenen Afghaninnen und Afghanen derzeit über 3,5 Millionen. Über 18 Millionen Menschen im Land brauchen humanitäre Hilfe.

Jeden Tag machen sich weitere Familien auf den Weg nach Kabul, um dort Schutz zu suchen. Der eskalierende Konflikt in Afghanistan bedeutet für Millionen Afghaninnen und Afghanen im ganzen Land großes Leid und erhöhten humanitären Bedarf. Foto: Enayatullah Azad/NRC Flüchtlingshilfe

„Wir machen uns auf eine schwere humanitäre Krise gefasst. Viele verängstigte Familien sind in den letzten Tagen nach Kabul geflohen. Die Lager sind überfüllt. Kinder schlafen unter freiem Himmel. Familien streiten sich um Lebensmittel. Wir befürchten, dass sich die Situation in noch nie da gewesenem Tempo auf das ganz Land ausweiten wird“, sagt Tracey Van Heerden, amtierende Landesdirektorin von NRC Flüchtlingshilfe in Afghanistan.

A woman with her 10 month old daughter on her arm.
Zahra Omari floh mit ihren sechs Kindern aus der Provinz Kunduz. Sie ging nach Kabul und lebt dort zurzeit in einem Park zusammen mit vielen anderen vertriebenen Familien. Foto: Enayatullah Azad/NRC Flüchtlingshilfe

Eine Mutter, Zahra Omari, berichtet uns, wie sie mit ihren sechs Kindern aus der Provinz Kunduz nach Kabul geflohen ist.

„Als die Menschen zu fliehen begannen, nahm ich meine Kinder und floh ebenfalls“, sagt sie. „Ich habe noch nicht einmal Milch für meine zehn Monate alte Tochter mitgenommen. Wir fanden einen Bus, der nach Kabul fuhr. Man hatte die Sitze ausgebaut, damit so viele Leute wie möglich hineinpassten. Der Bus war voller verängstigter Männer, Frauen und Kinder.“

„Wir bleiben und helfen“

Die eskalierenden Kämpfe machen es den Hilfsorganisationen schwerer, Familien in Not Hilfe zu leisten.

„80 Prozent unserer Projekte sind von dem anhaltenden Konflikt betroffen. Dadurch ist die Bereitstellung wichtiger Hilfe für über 900.000 Menschen beeinträchtigt. Aber wir sind entschlossen zu bleiben und zu helfen. Obwohl Afghanistan eins der gefährlichsten Länder der Welt ist, in dem wir im Einsatz sind, ist es jetzt wichtiger denn je, dass die Hilfsorganisationen die Bevölkerung erreichen können“, so Van Heerden.

Die Teams von NRC Flüchtlingshilfe arbeiten rund um die Uhr, die Geschwindigkeit und die Zunahme der Kämpfe haben jedoch alle überrascht. Die Zivilbevölkerung, darunter auch die Mitarbeitenden von NRC Flüchtlingshilfe, war gezwungen, sich zu verstecken, als der Konflikt um sie herum eskalierte, wobei viele in sicherere Gebiete flüchteten, sobald es möglich war.

Hafizullah, 55, wurde vor einer Woche in Tachar durch Granatsplitter verletzt. Er hat mit seiner Familie in einem Park in Kabul Zuflucht gesucht. Foto: Enayatullah Azad/NRC Flüchtlingshilfe

„Mein Bruder rettete mir das Leben“

Hafizullah, 55, wurde letzte Woche in Tachar durch einen Granatsplitter verletzt.

„Es sind noch immer Splitter in meinem Körper und ich habe starke Schmerzen. Wir waren in Tachar City, als wir von einer Granate getroffen wurden. Zwei meiner Freunde wurden getötet und drei von uns verletzt. Ich konnte mich zuerst nicht bewegen, aber dann kam mein Bruder und brachte mich dort weg. Wenn er mich nicht gerettet hätte, wäre ich jetzt tot“, sagt er.

Hafizullah hat, zusammen mit vielen anderen vertriebenen Familien, in einem der Stadtparks von Kabul Zuflucht gesucht.

„Ich habe kein Geld für einen Arztbesuch“, fährt er fort. „Ich hatte kein Geld, um die Fahrt für meine Familie zu bezahlen. Mein Bruder bezahlte die Fahrt nach Kabul für mich. Vielen Dank an die Menschen in Kabul, die uns kostenlos mit Lebensmitteln versorgen – andernfalls müssten meine Familie und viele andere hungrig zu Bett gehen.“

Sobald die vertriebenen Familien in Kabul ankamen, wurden sie von den Einwohnern mit Lebensmitteln, Wasser, Decken und Zeltmaterial versorgt. Dies ist eine der Wasserstellen, die von einer lokalen NGO im Azadi-Park in Kabul eingerichtet wurde. Foto: Enayatullah Azad/NRC Flüchtlingshilfe

Schutz benötigt

„Es ist jetzt wichtiger denn je, dass die Konfliktparteien ihrer Verpflichtung nachkommen, die Zivilbevölkerung, einschließlich humanitärer Hilfskräfte und ziviler Infrastruktur wie Schulen und Krankenhäuser, zu schützen“, sagt Van Heerden.

Von den jüngsten Kämpfen sind auch diejenigen nicht verschont geblieben, die bereits zuvor wegen der Gewalt aus ihrer Heimat fliehen mussten. In Shahrak-e-Sabz, einer der größten Siedlungen für Vertriebene im Westen des Landes, fürchten Familien die Nacht, wenn der Konflikt um sie herum eskaliert. Granaten haben kürzlich einen kleinen Jungen verletzt und mehrere Unterkünfte beschädigt.

„Es ist jetzt wichtiger denn je, dass die Konfliktparteien ihrer Verpflichtung nachkommen, die Zivilbevölkerung, einschließlich humanitärer Hilfskräfte und ziviler Infrastruktur wie Schulen und Krankenhäuser, zu schützen.“
Tracey Van Heerden, NRC Flüchtlingshilfe Kabul