Im November 2020 packte Aklilu seine Taschen, um zu seiner Universität in Addis Ababa, der Hauptstadt Äthiopiens, zurückzufahren. Er hatte wegen des Corona-Lockdowns ein paar Monate bei seiner Familie in Humera verbracht, einer kleinen Stadt im äußersten Nordwesten des Landes. Aklilu freute sich darauf, wieder zu studieren und seinen Abschluss zu machen.
Wie viele andere angehende Absolventinnen und Absolventen war Aklilu bereits auf Jobsuche und hatte Pläne für seine Abschlussfeier. „Wir sehen uns in fünf Wochen bei der Abschlussfeier“, sagte er zu seinen Freunden in Humera.
Ein paar Stunden später wurde die Stadt angegriffen. Es war der Beginn eines Konflikts zwischen der äthiopischen Regierung und bewaffneten Gruppen in der Region Tigray. Aklilu floh über die Grenze in den Sudan – als einer von 60.000 Äthiopierinnen und Äthiopiern, die seitdem Zuflucht im Sudan gesucht haben.
"Wir hätten niemals damit gerechnet, dass das passieren könnte. Ich hatte gehört, dass es Probleme gab, aber für mich war das nur Politik."Aklilu
Leben unter einer Plane
Aklilu ließ bei seiner Flucht alles stehen und liegen, nicht nur seinen gesamten Besitz, sondern auch seine Ausbildung in Äthiopien. Einst war er ausgezeichneter Bauingenieurstudent, jetzt lebt er in einem Flüchtlingslager und wartet auf Neuigkeiten aus dem Krieg, der in seiner Heimat tobt. Er fragt sich, ob die vergangenen fünf Jahre seines Studiums nun ganz umsonst waren.
„Wir hätten niemals damit gerechnet, dass das passieren könnte. Ich hatte gehört, dass es Probleme gab, aber für mich war das nur Politik. Mir war nicht klar, dass es so schlimm werden könnte“, sagt Aklilu.
Als Aklilu im Flüchtlingslager Um Rakuba ankam, lebte er mit seiner Familie zunächst unter einer blauen Plane, die über einem notdürftig zusammengezimmerten Holzgerüst hing. Ganz in der Nähe befand sich eine Latrine. Der Gestank übertünchte den Geruch des Kaffees, den seine Großmutter jeden Morgen kochte.
Ein paar Wochen später zog die Familie an einen anderen Platz und bekam ein weißes Zelt mit einer großen Öffnung an der Vorder- und Rückseite. Während der Regenzeit wurde das Zelt jedoch zum Fallschirm. Aklilu bekam trübe Augen, weil er Nacht für Nacht das Zelt festhalten musste, damit es nicht vom Wind davongeweht wurde.
„Als ich noch in Äthiopien war, liebte ich die Regenzeit. Man kann nichts tun, außer dazusitzen und dem Regen zuzusehen. Das war meine liebste Jahreszeit“, sagt Aklilu.
Bildung auf Eis gelegt
Rund 1.655 weitere Studierende aus Tigray leben derzeit in Flüchtlingslagern im Sudan. Sie fühlen sich im Stich gelassen.
„Eine Folge des Konflikts in Äthiopien ist, dass einige der hellsten Köpfe des Landes in Flüchtlingslagern im Sudan festsitzen“, sagt Will Carter, Landesdirektor für NRC Flüchtlingshilfe im Sudan. „Wenn diese Studierenden woanders eine Chance bekämen, wären sie für jeden, der sie aufnimmt, eine Bereicherung.“
Auf dem Weg zu seinem Abschluss war Aklilu mit vielen Stolpersteinen konfrontiert. Als die Gewalt ausbrach, floh er und musste, wie viele andere, seinen Personalausweis und seine Studiennachweise zurücklassen. Daher können die Studierenden nun weder nachweisen, wer sie sind, noch wie weit sie mit ihrem Studium bereits fortgeschritten waren. Auch Geld ist ein Problem.
"Möglicherweise werden wir für lange Zeit keine Arbeit finden. Wir würden eine Menge Lebenszeit verschwenden."Aklilu
Vor Kurzem hat Aklilu mit dem Gedanken gespielt, mit einem Stipendium an einer Universität in Ghana zu studieren. Solche Stipendien bedeuten allerdings in der Regel, dass Studierende ihre gesamten bisher erzielten Studienergebnisse verlieren und komplett von vorne anfangen müssen.
Aklilu frustriert es, dass er weitere fünf Jahre Bauingenieurwesen studieren müsste, um einen Abschluss zu bekommen, von dem er in Äthiopien nur noch fünf Wochen entfernt war.
„Wir versuchen, eine Universität zu finden, die unsere Leistungsnachweise von unserer Uni zu Hause anerkennt. Wenn wir von vorne anfangen müssen, sind wir 30, bis wir fertig sind. Möglicherweise werden wir für lange Zeit keine Arbeit finden. Wir würden eine Menge Lebenszeit verschwenden“, sagt Aklilu.
“Wie im Gefängnis“
Das Leben im Flüchtlingslager Um Rakuba ist frustrierend für junge Menschen, die daran gewöhnt sind, sich für ihr Studium und die Jobsuche frei bewegen zu können.
„Das Schlimmste daran, in einem Flüchtlingslager zu leben, ist, dass man sich nicht frei bewegen kann“, erklärt Aklilu. „Es ist wie im Gefängnis. Es ist schwierig, weil jeder die Freiheit haben muss, zu arbeiten und zu tun, was er möchte.“
Das sudanesische Asylgesetz von 2014 sichert Geflüchteten das Recht zu, sich frei zu bewegen und eine Ausbildung zu erwerben. In der Realität endet ihre Bewegungsfreiheit jedoch an den Grenzen des Lagers. Die Lagerpolitik verbietet es den Bewohnerinnen und Bewohner, das Gelände zu verlassen, womit auch ihr Zugang zu Arbeitsplätzen und Märkten eingeschränkt ist.
Silvia Beccacece, ehemalige Bereichsleiterin bei NRC Flüchtlingshilfe, erklärt:
„Äthiopische Flüchtlinge dürfen das Lager nicht verlassen, solange sie keine Erlaubnis von den Behörden haben. Diese wird nur bei triftigen Gründen erteilt, die mit Bildung, Gesundheit oder Arbeit zu tun haben. Leider sind diese Genehmigungen sehr schwer zu bekommen – es ist also ein Teufelskreis. Sie können das Lager nicht verlassen, um nach Arbeitsmöglichkeiten zu suchen und haben daher auch keine Chance, jemals eine Erlaubnis zu bekommen.“
Unterstützung im Miteinander
Trotz aller Widrigkeiten haben die Studierenden im Lager Unterstützung im Miteinander gefunden. Sie haben eine Gruppe namens Tigrayan Refugees University Students in Sudan Association, kurz TRUSS, gegründet.
Aklilu ist eins der Gründungsmitglieder. „Wenn wir über unsere Gefühle sprechen und zusammen sind, ist es leichter“, sagt er.
Die TRUSS-Studentinnen und -Studenten haben aber nicht nur ihre Ausbildung im Blick, sondern mobilisieren gemeinsam mit anderen jungen Menschen im Lager auch die Gemeinde.
„Die Gemeinde braucht hier im Lager so viele Dinge, und wir können etwas für sie tun“, fährt Aklilu fort. „Wir überlegen, wie wir das Leben in diesem Lager sowohl für die Jugendlichen als auch für die gesamte Gemeinde angenehmer gestalten können. Das ist unser Ziel als Verband und als Gruppe. Denn Zusammenhalt ist sehr wichtig.“
“Ich habe die Hoffnung nicht verloren“
Jeden Freitagmorgen versammeln sich die Mitglieder des Verbandes in einem Gemeinschaftszelt zu ihrem wöchentlichen Meeting. Sie haben Komitees gegründet und planen die kommende Woche.
Eine Gruppe sammelt unter der Lagerbevölkerung Spenden, um einer alleinstehenden älteren Frau im Lager zu helfen. Eine andere Gruppe trifft andere Studierende und Jugendliche, um für sie den Kontakt mit Hilfsorganisationen herzustellen.
"Was mich optimistisch stimmt, ist die Tatsache, dass ich hier Freunde habe, und dass wir gemeinsam über unsere Zukunft sprechen."Aklilu
Die TRUSS-Mitglieder haben Organisationen wie NRC Flüchtlingshilfe bereits geholfen, Unterkünfte wieder aufzubauen, Bargeldverteilungen zu organisieren und Kinder an Schulen anzumelden sowie Probleme anzugehen, die in der Gemeinde bestehen. Sie erhalten Zuschüsse von Hilfsorganisationen, mit denen sie ihre Familien unterstützen können.
„Ich habe die Hoffnung nicht verloren“, sagt Aklilu. „Was mich optimistisch stimmt, ist die Tatsache, dass ich hier Freunde habe, und dass wir gemeinsam über unsere Zukunft sprechen. Auch wenn es kein richtiger Plan ist, können wir uns über unsere täglichen Aktivitäten austauschen.“
„Das größte Geschenk ist es, meine Freunde um mich zu haben.“
Was NRC Flüchtlingshilfe tut
Wir sind im Flüchtlingslager Um Rakuba vor Ort und unterstützen die Geflüchteten mit Material für Unterkünfte, mit dem sie vom Regen zerstörte Unterkünfte wieder aufbauen und verstärken können. Außerdem verteilen wir Bargeld, damit die Bewohnerinnen und Bewohner ihren täglichen Bedarf decken können, sowie weitere wichtige Dinge wie Hygieneartikel für Frauen und Mädchen.
Als die Geflüchteten begannen, nach Um Rakuba zu kommen, war NRC Flüchtlingshilfe eine der ersten Hilfsorganisationen, die dort Bildung anboten. Derzeit betreiben wir im Lager vier Schulen und wir stellen auch Material wie Schultaschen, Hefte, Wasserflaschen und Bleistifte zur Verfügung. Unsere Maßnahmen im Bereich Bildung werden großzügig von Education Cannot Wait unterstützt.