Libyen

Letzter Ausweg Mittelmeer

Auf der Flucht vor dem Krieg wurde er von Menschenhändlern entführt und nach Libyen gebracht. Er überlebte jahrelange Gewalt, Folter, Hunger und Sklaverei. Heute lebt „Omar“ mit seiner Frau und seiner Tochter in der gefährlichen Hafenstadt Tripolis. Das Mittelmeer ist sein letzter Ausweg.

„Es ist herzzerreißend“, sagt Omar auf meinem Computerbildschirm. Wir treffen uns über Zoom. Er ist in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Ich sitze in meinem Büro in Oslo. Aus Sicherheitsgründen verwenden wir nicht seinen richtigen Namen und zeigen sein Gesicht nicht. Er ist Anfang 20. Er hat eine Frau und eine Tochter.

„Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie entsetzlich das ist“, fährt er fort.

Ich habe ihm die Geschichte von Artin, dem kurdisch-iranischen Jungen, erzählt. Der kleine Junge war nur 15 Monate alt. Sein Körper, bekleidet mit einem Overall, trieb lange im Meer, bevor er am Neujahrstag 2021 an der Küste der norwegischen Insel Karmøy an Land gespült wurde.

Zusammen mit seinen Eltern und zwei Geschwistern hatte Artin am 21. Oktober versucht, den Ärmelkanal zu überqueren, um die Hafenstadt Dünkirchen in Nordfrankreich zu erreichen. Das Wetter war schlecht. Das kleine Boot lief mit Wasser voll und kenterte. Vater Iran-Nejad, 35, Mutter Shiva Mohammad Panahi und die Geschwister Anitam, 9, und Armin, 6, und Artin, 1, kamen alle ums Leben.

In einem überfüllten Boot im Mittelmeer warten Migrierende und Flüchtlinge aus mehreren afrikanischen Ländern auf Hilfe. Das Foto wurde am 21. Februar 2021 aufgenommen. Foto: Bruno Thevenin/AP Photo/NZN Scanpix

Die Route übers Mittelmeer ist immer noch eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt

In den letzten Monaten ist die Anzahl an Flüchtenden und Migrierenden, die das Mittelmeer überqueren, stark angestiegen.

Mit Stand vom 18. Juni 2021 sind in diesem Jahr 677 Menschen bei der Überfahrt über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien ums Leben gekommen. Dies ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres, in dem es 233 Todesfälle gab, ein enormer Anstieg.

Quelle: IOM's Missing Migrants Project

Trotz eines starken Rückgangs der Zahl der Geflüchteten und Migrierenden, die in den letzten Jahren über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa kamen, hat sich die Zahl der Todesfälle mehr als verdoppelt.

Im Jahr 2017, als 119.310 Menschen Europa über Libyen und die zentrale Mittelmeerroute erreichten, starb einer von 51 Menschen bei der Überfahrt. Im Jahr 2018 war es einer von 35. Ende 2019 kamen nur noch 14.560 Migrierende nach Europa – und mindestens einer von 21 starb.

Diese Zahlen umfassen nicht die unbekannte Anzahl Menschen, die gestorben oder verschwunden sind, nachdem sie von der libyschen Küstenwache, die von der EU finanziell unterstützt wird, um die Boote aufzuhalten, nach Libyen zurückgebracht wurden.

Quelle: UNHCR

Natürlich weiß Omar, dass Hunderte, manchmal Tausende jedes Jahr im Mittelmeer ertrinken. Er selbst war einmal gezwungen, die gefährliche Überfahrt zu versuchen.

Wenn er diese Einzelschicksale hört – besonders wenn Kinder wie Artin betroffen sind – denkt er natürlich sofort auch an seine eigene Tochter, die etwa im selben Alter ist.


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Der Traum von Afrika

Omar träumte nie von Europa.

Er träumte davon, in Freiheit in einem afrikanischen Land zu leben.

Das Gespräch mit Omar fand über Zoom statt. Foto: NRC

Nur die Vereinten Nationen können ihm helfen, diesen Traum zu verwirklichen. Aber die Hoffnung, dass sie etwas für ihn und seine kleine Familie tun werden, schwindet. In seinen Augen ergreift das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR keine nennenswerten Maßnahmen. Sie stellten ihm ein paar Fragen und gaben ihm einen Zettel mit einer Fallnummer.

Italien hingegen ist nur eine kurze Bootsreise entfernt.

Aufwachsen im Krieg

Dies ist Omars Geschichte.

Er wurde in einem der Länder am Horn von Afrika geboren (zu seinem Schutz nennen wir das Land nicht).

Das Horn von Afrika liegt strategisch günstig am Roten Meer und am Golf von Aden. Es bezeichnet ein geografisches Gebiet, wird aber auch mit in Zusammenhang stehenden Konflikten in Verbindung gebracht. Eritrea, Äthiopien, Somalia und Dschibuti sowie der Sudan, der Südsudan, Kenia und Uganda werden oft einbezogen, wenn von der Konfliktsituation rund um das Horn von Afrika die Rede ist.

„Meine Mutter nahm jede Arbeit an, die sie im Viertel finden konnte – alles von Hausarbeit bis zum Kochen. Mein Vater hatte ein Taxiunternehmen mit einem Motorrad. Ich habe einen älteren Bruder“, erzählt Omar.

Als ich drei Jahre alt war, wurde mein Vater bei den Kämpfen verletzt. Es gab keine medizinische Hilfe. Durch die Verletzungen wurde er immer kränker. Nach einem Jahr starb er schließlich.
Omar

Erinnerst du dich an ihn?

„Nein.“

Hast du ein Foto von ihm?

„Nein“, antwortet Omar – und senkt seinen Blick.

Flüchtlingslager Um Rakuba im Sudan, 70 Kilometer von der äthiopischen Grenze entfernt. NRC Flüchtlingshilfe hat hier eine Schule für Kinder eingerichtet, die durch den Konflikt vertrieben wurden. Das Foto wurde im Dezember 2020 aufgenommen. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Omar erklärt:

„Im Jahr 2017 hätte ich in Äthiopien zur Universität gehen können. Ich zog in die Stadt, um auf dem Campus zu wohnen und Sozialwissenschaften zu studieren. Das Studium wurde von den äthiopischen Behörden finanziert. Lebensmittel und andere Dinge, zum Beispiel Prüfungsgebühren, musste ich jedoch aus eigener Tasche bezahlen. Es war uns nicht erlaubt, den Campus zu verlassen, daher konnte ich nicht arbeiten, um Geld zu verdienen. Wenn man keine Eltern oder sonst jemanden hat, der einen finanziell unterstützen kann, wie soll man das schaffen?“

NRC Flüchtlingshilfe ist eine der wenigen Hilfsorganisationen in Libyen

In Libyen leben über eine halbe Million Flüchtlinge, Migrierte und Asylsuchende, viele davon unter sehr schlechten Bedingungen. Sie haben wenige Rechte oder Möglichkeiten, ihren Status offiziell anerkennen zu lassen. Das macht sie anfällig für Missbrauch.

Bildung, Unterkünfte, Wasser und Sanitäreinrichtungen und nicht zuletzt Rechtsberatung gehören zu den Dingen, die NRC Flüchtlingshilfe in Libyen für diese Menschen bereitstellt.

„Viele Geflüchtete und Migrierte wohnen zur Miete. Wir unterstützen sie, wenn die Hausbesitzer versuchen, die Miete zu erhöhen“, sagt Bushra Gleasa, die für NRC Flüchtlingshilfe in Tripolis tätig ist.

„Darüber hinaus helfen wir ihnen mit Geburtsurkunden und Ausweisdokumenten, Unterkünften und Schulbildung. Wir unterstützen sie auch dabei, mit den zuständigen Behörden in Kontakt zu treten.“

Zu Bushras Aufgaben gehört es, die Geflüchteten und Migrierenden gut zu informieren, wenn sie sich an unser Informationszentrum wenden. Außerdem bietet NRC Flüchtlingshilfe Informationsveranstaltungen in den Gemeinden vor Ort an.

Lesen Sie hier mehr über unsere Arbeit in Libyen.

Kontakt zu Mutter und Bruder verloren

„Wieder brachen Kämpfe aus, wo meine Mutter lebte, und unschuldige Menschen wurden getötet. Das Leben als Vertriebene begann sie zu ermüden. Sie rief mich mehrere Male an. Schließlich wollte sie über die Grenze nach Kenia, ins Kakuma-Flüchtlingslager, in das auch mein Bruder gegangen war.“


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Flüchtlingslager Kakuma in Kenia, aus dem Jahr 2018. Foto: Chris Muturi/NRC Flüchtlingshilfe

„Die Telefonnummer, die sie in Äthiopien hatte, funktionierte nicht mehr, als sie das Land verließ. Ich habe seitdem nichts mehr von ihr gehört. Auch von meinem Bruder nicht.

Ich weiß nicht, wo sie sind oder wie es ihnen geht.

Ich weiß nicht einmal, ob sie am Leben sind.“

 

Der Entschluss, in den Sudan zu gehen

Omar studierte fünf Monate lang. Am 22. Januar 2017 saß er über seine Bücher gebeugt in der Universitätsbibliothek. Er war hungrig. Er konnte sich nicht konzentrieren. Alles, woran er denken konnte, war, wie hoffnungslos seine Lage war.

Dann beschloss ich, wegzugehen. Wenn ich überleben wollte, war das die einzige Lösung.
Omar

„Dann beschloss ich, wegzugehen. Wenn ich überleben wollte, war das die einzige Lösung“, sagt Omar.

„Zuerst dachte ich an Kenia, aber zu diesem Zeitpunkt war die Grenze praktisch geschlossen. Aber vielleicht der Sudan? Ich hatte gehört, dass man dort Arbeit bekommen konnte. Mein Ziel war es, Geld zu verdienen, damit ich die wichtigsten Dinge wie Essen, ein Dach über dem Kopf und die Ausgaben für mein Studium bezahlen konnte. Ich wandte mich an einen Bekannten, mit dem ich auf Facebook befreundet war. Mir war aufgefallen, dass er ein Foto von sich in Khartum (der Hauptstadt des Sudan) gepostet hatte. Ich schrieb ihm und bat um Rat.

Er antwortete: ‚In den Sudan zu kommen ist einfach.’

Ich sagte: ‚Aber ich habe kein Geld.’

Er sagte: ‚Kein Problem! Es gibt eine Gruppe in Äthiopien, die sich gerade auf den Weg macht. Du kannst sie kontaktieren und dich ihnen anschließen. Sag ihnen einfach einen Gruß von mir.’

Er gab mir eine Telefonnummer. Ich rief an und ein Mann ging ans Telefon.

Ich sagte: ‚Hallo, ich möchte in den Sudan und mein Bekannter sagte, Sie könnten mir helfen. Ich habe jedoch kein Geld.’

Der Mann antwortete: ‚Kein Problem. Wie wär’s mit morgen? Ich kann dich abholen.’

 

Im Netz des Menschenhändlers

„Ich war überrascht, wie einfach es war, und fragte mich: Warum helfen die mir, ohne dafür Geld zu verlangen? Aber der Mann versicherte mir, dass alles in Ordnung sei und dass ich später bezahlen könne, falls ich das wolle.“

Am nächsten Tag um 10 Uhr kam der Mann in einem Pick-up, um Omar abzuholen. Er war klein, etwa Mitte 30. Er sagte, Omar solle kein Gepäck mitnehmen.

Nach zwei Stunden Fahrt kamen sie zu einem Mann aus Eritrea und einem aus Äthiopien, die auf sie warteten. Omar wurde gesagt, dass er mit diesen Männern reisen würde.

Sie bekamen etwas zu essen. Alles schien in Ordnung zu sein.

„Ich fragte den Mann aus Äthiopien, ob er etwas für die Reise bezahlt habe. Er antwortete: ‚Nein, aber ich habe einen Bruder im Sudan, der für mich bezahlt hat’“, sagt Omar.

Abends wurde ihnen gesagt, dass die Fahrt in einem Kleinbus fortgesetzt werde. Sie fuhren die ganze Nacht hindurch in Richtung Sudan. Es gab keine Polizei oder Checkpoints auf dem Weg. Sie kamen in einer Stadt an. Dort fuhren sie zum Haus des Fahrers, wo sie etwas zu essen und zu trinken bekamen und die Nacht verbrachten. Am nächsten Abend ging die Reise mit einem neuen Fahrer weiter.

Omar war etwas erschrocken, dass sie um 8 Uhr abends von einem Polizeiauto abgeholt wurden.

Sie fuhren bis um 10 Uhr am nächsten Morgen und bekamen weder etwas zu essen noch zu trinken.

„Wir überquerten die sudanesische Grenze. Eine Gruppe von Kindern und Erwachsenen, 20 Personen, wartete auf uns. Nun waren wir 23 Personen, die nach Khartum fuhren. Wir bekamen einen neuen Fahrer, einen Sudanesen. Er sollte uns nach Khartum bringen.“

 

Entführt

„Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts über Menschenhändler. Ich glaubte immer noch, dass alles in Ordnung sei. Wir bekamen etwas zu essen. Ich sprach mit den Leuten in der Gruppe, die mir erzählten, sie hätten etwa zwei, drei, vier Tage dort auf uns gewartet. Sie waren alle in kleineren Gruppen angekommen, so wie wir.“

Menschenhandel und -schmuggel

Während Menschenschmuggel das Einverständnis des Migrierenden voraussetzt, in ein Land geschmuggelt zu werden, haben Opfer von Menschenhandel entweder nicht eingewilligt oder ihre Zustimmung unter falschen Voraussetzungen gegeben. Der Menschenschmuggel endet mit der Ankunft am Zielort, während Menschenhandel die anhaltende Ausbeutung des Opfers bedeutet. Anders als beim Menschenschmuggel kann Menschenhandel auch innerhalb der Grenzen eines Landes stattfinden.

Opfer von Menschenhandel können für Prostitution, Zwangsarbeit oder andere Zwangsdienste wie Betteln, Militärdienst in einem fremden Land oder Organentnahme missbraucht werden.

Quelle: Die Große Norwegische Enzyklopädie 

Omar berichtet, neben dem Fahrer waren fünf oder sechs weitere Männer mit Schusswaffen dabei. Er dachte, falls es Polizisten seien, sei es merkwürdig, dass sie keine Uniformen trugen.

„Dann dämmerte mir langsam, dass sie uns vielleicht entführt hatten. Dass sie uns vielleicht töten würden. Aber warum gaben sie uns etwas zu essen?“

Dann dämmerte mir langsam, dass sie uns vielleicht entführt hatten. Dass sie uns vielleicht töten würden.
Omar
Schmuggler auf der anderen Seite Afrikas, in der westlichen Sahara, heben ein Fischerboot auf ein Auto. Das Boot soll Migrierende zu den Kanarischen Inseln bringen. Das Foto wurde im Dezember 2020 aufgenommen. Foto: Mosa´ab Elshamy/AP Photo/NTB Scanpix

„Das ergab keinen Sinn. Wir fuhren nie auf ‚normalen’ Straßen, nur auf Wegen, wo wir nicht gesehen wurden. Da wurde mir klar, dass ich in einer gefährlichen Lage war.“

Vorbei an Khartum

Es war heiß. Omar und die anderen schliefen auf Matten auf dem Boden eines Lagerhauses. Männer, Frauen und Kinder. Sie hatten Zugang zu einer Toilette und Wasser zum Waschen. Sie bekamen etwas zu essen und Trinkwasser.

Ihnen wurden gesagt, dass sie ein paar Tage warten müssten, dann würde jemand sie abholen.

Dann kamen drei Toyotas an. In jedes Auto wurden acht Personen gesetzt. In Omars Auto waren drei Frauen, fünf Männer, der Fahrer und sein Kollege. Im Auto gab es Schusswaffen. Sie fuhren 24 Stunden lang.

Abends um 11 Uhr kamen sie in Khartum an. Sie wurden in Autos mit verspiegelten Scheiben verfrachtet, in die man nicht hineinsehen konnte.

„Ich sah geschäftiges Stadtleben. Aber zu meiner großen Überraschung hielten wir nicht an – wir fuhren immer weiter. Dann dachte ich, wir würden in einen der Vororte fahren. Aber wir fuhren wieder mehrere Stunden. Bis wir in der Sahara ankamen. Und da gibt es nichts. Absolut nichts.

Mitten in der Nacht sollten wir aus den Autos steigen und dort warten. Dann ließen sie uns einfach zurück. Was sollten wir tun? Wir waren allein, 23 Menschen, darunter mehrere Kinder und fünf oder sechs schwangere Frauen.

Es war so kalt!

Eiskalt.“

 

Mitten in der Sahara

Nach einer Stunde tauchten sechs Fahrzeuge auf: Landcruiser Pick-ups. Mehrere bewaffnete Männer sprangen heraus.

„Sie verteilten uns auf die Fahrzeuge, sechs in jedes Fahrzeug – auf der Rückbank. Wir fuhren drei Tage. Ohne Essen und Wasser. Kein einziger Tropfen Wasser. Wir bekamen nichts. Nichts! Die Frauen und Kinder taten mir leid. Die Leute wurden krank. Die Kinder weinten, wir bettelten und weinten. Den Männern war das egal.

Mitten in der Sahara war ein großes Lagerhaus. Darin waren ungefähr 60 Menschen, die sagten, sie seien seit über 50 Tagen dort eingeschlossen. Sie stammten aus verschiedenen Ländern und hatten alle nach Khartum gewollt.

Wir schliefen auf dem Fußboden und bekamen zweimal am Tag Makkaroni und Wasser. Nach zwei Tagen wurden wir von Lastwagen abgeholt. Die meisten von uns mussten aufrecht auf der Ladefläche stehen.

Nach ein paar Tagen Fahrt wurde uns gesagt, dass Araber uns abholen würden.

Und dass wir nach Libyen fahren würden.“

Eine Politik, die Leben kostet

Am 26. Mai dieses Jahres appellierte Michelle Bachelet, die Hochkommissarin für Menschenrechte, an die libyschen Behörden sowie an die EU und ihre Unterstützer, ihre Mittelmeerpolitik unverzüglich zu ändern.

Die Tatsache, dass Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute entweder sterben oder missbraucht werden, sind ihrer Meinung nach keine tragischen Einzelfälle. Vielmehr ist es die Folge konkreter Politik.

„Die eigentliche Tragödie ist, dass so viel Leid und Tod auf der Route über das zentrale Mittelmeer vermieden werden könnte. Jedes Jahr ertrinken Menschen, weil die Hilfe zu spät oder gar nicht kommt. Diejenigen, die gerettet werden, müssen manchmal mehrere Tage oder Wochen warten, bis sie sicher an Land gehen können, oder sie werden, wie es immer häufiger der Fall ist, nach Libyen zurückgeschickt, das, wie schon unzählige Male betont wurde, aufgrund der herrschenden Gewalt, kein sicherer Zufluchtsort ist“, sagt sie.

Mit den Jobs, die er bekommt, versucht Omar, seine Familie zu ernähren. Er spricht sieben Sprachen, daher hat er auch schon als Dolmetscher gearbeitet. Foto: NRC Flüchtlingshilfe

Hölle auf Erden

„Sie kamen in mindestens zehn Geländewagen. Sie waren schwer bewaffnet. Wieder wurden wir in Gruppen aufgeteilt, diesmal waren es zehn pro Gruppe. Jeder, der es wagte, Fragen zu stellen, wurde geschlagen.“

Das nächste Ziel war Kufra, ein Gebiet in der libyschen Wüste, das an Ägypten, den Sudan und Tschad grenzt, erzählt Omar.

Er sagt, aufgrund der Lage in der Wüste sei es unmöglich, aus Kufra zu entkommen.

Es ist ein Gebiet, in dem Menschen verkauft werden, genauso wie früher Sklaven verkauft und auf Sklavenschiffe gebracht wurden.
Omar

„Es ist ein Gebiet, in dem Menschen verkauft werden, genauso wie früher Sklaven verkauft und auf Sklavenschiffe gebracht wurden. Für die Sklavenhändler sind dunkelhäutige Menschen wie ich nur eine Ware, die man verkaufen kann“, sagt Omar.

„Da war ein großes Gebäude, ein Hangar mit rund 350-360 Menschen. Frauen, Männer, Kinder. Sie waren in diesem Hangar seit einem Jahr, zwei Jahren, drei Jahren. Ich sah, dass viele unterernährt waren. Viele waren krank. Weiße Makkaroni waren alles, was es zu essen gab, morgens und abends. Es gab keine Medikamente oder medizinische Versorgung. Menschen starben an Unterernährung und Krankheiten.

Sowohl Frauen als auch Männer wurden vergewaltigt.

Folter war ganz normal. Diejenigen, die folterten, waren immer unsere eigenen Landsmänner. Sie arbeiteten für die Libyer.“

 

Folter auf mehreren Ebenen

„Eine Gruppe Männer hatte die Aufgabe, uns dazu zu bringen, unsere Familien anzurufen und um Geld zu bitten. Außerhalb des Hangars war ein kleines Haus, zwei mal drei Meter, wo wir die Anrufe tätigen mussten.

Besonders diejenigen, die kein Geld auftreiben konnten, wurden mit Gewalt und Folter bestraft. Sie sollten ‚bearbeitet’ werden. Das konnte sich über zwei oder drei Monate hinziehen.

Die meisten von ihnen starben.

So operieren die Händler, wenn es um entführte Kinder geht: Die Kinder werden gezwungen, ihre Eltern anzurufen. Die sind natürlich außer sich vor Verzweiflung und sagen zu den Kindern: ‚Wo bist du? Wo bist du? Wir suchen dich seit zwei Monaten überall.’

Das Kind weint am Telefon. Manchmal missbrauchen sie das Kind, während sie die Eltern über Facetime anrufen. Dann sehen die Eltern mit eigenen Augen, wie ihre Kinder leiden, und tun natürlich alles in ihrer Macht stehende, um das Geld aufzutreiben.

Selbst wenn es jemand schafft zu zahlen, gibt es keine Garantie, dass sie überleben. Da sie entweder sterben oder von anderen entführt werden können. Oder wie eine Frau aus meiner Gruppe: Sie zahlte, aber wurden trotzdem nicht freigelassen und jede Nacht vergewaltigt.

Die Händler sagten: ‚Ruf deine Familie an und sag ihnen, sie sollen uns 5.500 US-Dollar (rund 4700 Euro) schicken.’ Ich sagte: ‚Aber ich habe niemanden, den ich anrufen kann.’ Tagelang drangsalierten sie mich. Um den Leuten zu zeigen, was passiert, wenn sie nicht anrufen, foltern und töten sie andere vor ihren Augen.

Letztendlich sagte ich, sie könnten mich töten oder durch Arbeit bezahlen lassen.

Am nächsten Morgen kam einer der Libyer an. Ich sagte ihm auf Arabisch, dass ich niemanden hätte, den ich anrufen könne. Der Mann aus meinem Heimatland warf einen Schuh nach mir und sagte: ‚Sag das nicht – sonst bring ich dich um.’ Ich antwortete: ‚Kein Problem, tu das ruhig’, und ich sagte zu den Libyern: ‚Ich kann arbeiten.’ Er sagte: ‚Wir brauchen keine Arbeiter, wir brauchen Geld.’

Dann ging er weg.

Der Mann aus meinem Heimatland schikanierte mich noch eine ganze Woche lang. Dann eines Tages vergewisserte er sich, dass andere zusahen, und erhitzte ein Stück Eisen und forderte mich auf, die Hände hinter den Kopf zu legen…“

Auf meinem Computerbildschirm sehe ich, wie Omar die Hände hinter seinem Kopf faltet.

„… so. Und dann drückte er das heiße Eisen auf meinen Arm, hier…“

Er zeigt mir eine große Narbe auf seinem Unterarm.

„… und er sagte: ‚Wenn du nicht anrufst, wirst du morgen gehängt.’

Ich hatte schon längst alle Hoffnung verloren. Ich erwiderte: ‚Ja, dann hängt mich einfach.’ Er fesselte meine Hände. Der Arm mit der Wunde schwoll an.

Nach einer Woche sagte man mir, dass ich für ihn arbeiten könne. Ich begann mit Toilettenputzen. Ich arbeitete über sieben Monate lang ohne Bezahlung.

Aber ich überlebte.“

Kinder von Migrierten und Geflüchteten werden in Tripolis von NRC Flüchtlingshilfe unterrichtet. Foto: Waed Altireeki/NRC Flüchtlingshilfe

Miliz

Omar glaubte nicht daran, als sie sagte, sie würden ihn und den Rest der Gruppe zum Meer bringen. Sie fuhren drei Tage.

Freiheit.

Sie wurden an einem verlassenen Ort an der Küste abgesetzt. Es waren acht Stunden. Acht Stunden Freiheit.

Dann kamen bewaffnete Männer. Eine Miliz. Entführer.

„Alles ging von vorne los: Wir wurden zu einem Hangar mit rund 600 Leuten gebracht. Sie sagten: ‚Ruf deine Familie an und sag ihnen, dass sie zahlen sollen.’

Wir sagten: ‚Aber wir haben schon in Kufra bezahlt.’

Drei Monate lang hörten wir nichts anderes als: ‚Zahlt und ihr seid frei.’

Dasselbe System. Dieselbe Folter.“

 

Das Mittelmeer

Am 30. Juni 2018 ging Omar zusammen mit 270 anderen an die Küste nach al-Chums. In Holzbooten versuchten sie, das Meer zu überqueren. Nach sieben Stunden auf See wurden sie von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und zurück an Land gebracht.

Migrierende und Flüchtlinge aus verschiedenen afrikanischen Ländern halten sich mit Wolldecken warm. Es ist März 2021 und sie wurden im Mittelmeer aufgegriffen. Sie werden nun von einem Rettungsboot an Land gebracht. Foto: Bruno Thevenin/AP Photo/NTB Scanpix

Sie wurden in ein Internierungslager gebracht, wo Omar die nächsten zehn Monate verbrachte.

Dort lernte er die Frau kennen, mit der er jetzt zusammenlebt. Sie wurde schwanger.

Heute leben die drei in Tripolis.

„Die meisten Migrierten in Tripolis haben keine Arbeit. Damit sie überleben können, müssen ihre Familien ihnen Geld schicken. Zu allem Überfluss ist da auch noch die Corona-Pandemie. Das Leben hier ist sehr, sehr schwer“, sagt Omar.

Er war schon Reinigungskraft in einem Hotel, Sozialarbeiter für eine Organisation und Dolmetscher – er spricht sieben Sprachen.

„UNHCR ist meine letzte Hoffnung. Ich warte – und ich warte schon lange – dass UNHCR uns dabei hilft, in ein sicheres Land zu kommen. Aber die Zeit vergeht und nichts passiert.

Das Wichtigste ist für mich die Zukunft meiner Tochter. Je älter sie wird, desto größer wird der Druck für mich. Das Leben in Tripolis ist extrem gefährlich. Jeder hat eine Schusswaffe, sogar Kinder. Man kann am helllichten Tag ausgeraubt oder entführt werden. Bei uns wurde schon dreimal mitten in der Nacht eingebrochen. Wenn ich das Haus verlasse, um zur Arbeit zu gehen, habe ich Angst. Es ist gefährlich, nach draußen zu gehen. Wenn ich ein Taxi nehmen muss, kostet das normalerweise 5 Dinar, aber weil ich dunkelhäutig bin, verlangen sie 15 oder 20. Das ist Geld, das ich nicht habe. Dasselbe ist es mit der Miete, sie wird ständig erhöht.

Meine Tochter würde so gern rausgehen. Aber ich wage es nicht, sie gehen zu lassen. Jedes Mal, wenn ich weggehe, weint sie, weil sie mit nach draußen gehen will. Meine Frau und meine Tochter bleiben immer im Haus. Das nagt an der Psyche.

Ich hoffe ständig, dass ich endlich von UNHCR zu einem Gespräch eingeladen werde. Aber jeden Tag schwindet die Hoffnung ein bisschen mehr. Niemand ruft an. Ich habe langsam das Gefühl, dass sie meinen Fall nicht weiterverfolgen.

Dann ist das Meer unsere einzige Hoffnung. Entweder schaffen wir es hinüberzukommen oder wir sterben.

Es ist unser letzter Ausweg.“ 

Quellen: nrk.no, Die Große Norwegische Enzyklopädie, Vårt Land, issafrica.org, msf.org, Bistandsaktuelt, Aftenposten, Amnesty International, UN News, UNHCR, Ärzte Ohne Grenzen