Irak

Arwads Leben als Geflüchtete während der Pandemie

Sie floh aus dem Krieg in Syrien. Nun lebt sie im Irak, wo sie einen Kosmetiksalon eröffnet hat. Doch das Virus schlug ein wie eine Bombe. Die Kundinnen blieben aus. Und die Zahl der Infektionen steigt täglich. „Als Mutter darf man niemals aufgeben. Ganz gleich, wie hart das Leben ist“, sagt Arwad.

Die Pandemie betrifft uns alle. Jeder empfindet die Folgen des Coronavirus anders, und zwar nicht nur aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen und seiner Persönlichkeit, sondern auch aufgrund des Ausmaßes, in dem er direkt von der Pandemie betroffen ist, so das Zentrum für Stress- und Traumapsychologie.

Dohuk liegt im Nordwesten des Iraks umgeben von den Bergketten Bekhair und Zaiwa. Die Stadt liegt seit jeher an der Handelsroute zwischen dem Irak, der Türkei und Syrien. Darüber hinaus ist Dohuk das Tor zum irakischen Kurdistan.

An einem Kontrollpunkt außerhalb von Zakho, steht ein Lastwagen, mit Waren aus der Türkei beladen. Foto: NTB Scanpix/Ari Jalal/Reuters

Arwad öffnet die Tür ihrer Wohnung und bittet ihre Gäste herein. Ihr Haar ist unter einem schwarzen Hidschab verborgen, ihr Gesicht ist von einer hellblauen medizinischen Maske bedeckt. Sie trägt eine lange weiße Bluse, eine schwarze Jacke mit einem schmalen Gürtel, eine schwarze Strumpfhose und Sandalen.

Alans Auftrag

Ein junger Mann mit einer Fototasche steht wartend in der Stadt. Sein Name ist Alan Jalal Ayobi. Er ist 28 Jahre alt und arbeitet in der Kommunikationsabteilung bei NRC Flüchtlingshilfe im Irak und im Nahen Osten.

Alan Jalal Ayobi arbeitet für NRC Bereich Kommunikation. Foto: Private

Alan ist nach Dohuk gefahren, um mit Arwad zu sprechen. Das Ziel: Den Unterstützerinnen und Unterstützern von NRC Flüchtlingshilfe einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es ist, als Flüchtling inmitten der Corona-Pandemie zu leben.

Er wartet auf seine Mitfahrgelegenheit nach Zaxo, wo Arwad derzeit lebt.

Im Irak leben rund 40,5 Millionen Menschen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 29. November 2020 haben sich insgesamt 554,767 Irakerinnen und Iraker mit Covid-19 infiziert. 12.306 starben an den Folgen der Erkrankung.

Alan wird von NRCs Fahrer Shawkat Omar abgeholt. Zusammen werden sie von Dohuk nach Zakho fahren, wo Arwad jetzt lebt. Foto: Alan Jalal Ayobi/ NRC

Sie sitzen auf dem Sofa und unterhalten sich. Alan bereitet sich darauf vor, ein paar Fotos zu machen und das Interview zu beginnen. Er öffnet seine Tasche und holt seine Kamera heraus. Arwad sagt, sie sei damit einverstanden, fotografiert zu werden, jedoch wolle sie keine Bilder von ihrem Gesicht – noch nicht einmal mit Maske. Alan fragt höflich nach dem Grund. Zuvor hatte sie den Porträtaufnahmen für das Interview doch zugestimmt?

Sie erwidert, es gehe nicht anders. Sie plane, eines Tages nach Syrien zurückzukehren und wolle sich nicht einer möglichen Verfolgung aussetzen. Außerdem gebe es familiäre Gründe dafür, ihre Identität geheim zu halten. Alan ist enttäuscht, aber daran gewöhnt, dass so etwas im Nahen Osten vorkommt.

Die Stadt Erbil besteht seit über 6.000 Jahren und ist eine der ältesten Städte der Welt. Erbil ist der Sitz der kurdischen Regionalregierung im Irak. Foto: NTB Scanpix

Alan trat die Reise nach Dohuk von Erbil aus an, dem Sitz der Regierung der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Erbil zählt zu den ältesten Städten der Welt. Sie liegt im einstigen Mesopotamien – dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Heute wird die Region „Fruchtbarer Halbmond“ genannt.

Alan entdeckt Shawkat Omar, den Fahrer von NRC Flüchtlingshilfe, in seinem Pick-up. Die Fahrt nach Zaxo wird gut 50 Minuten dauern.

"Es fühlte sich fast normal an, Schmerzen zu haben", sagt Arwad. Foto: Alan Jalal Ayobi / NRC

Covid-19 in Dohuk

„Von Covid-19 hörten wir zum ersten Mal im Internet. Wir hätten nie gedacht, dass die Pandemie bis hierher nach Zaxo kommen würde. Aber sie kam. Und als die Menschen sich hier infizierten, begannen wir, Desinfektionsmittel zu benutzen und uns häufig die Hände zu waschen.

Dann kam der Shutdown. Er dauerte fast drei Monate und fiel genau in die Zeit, als mein Mann und ich uns scheiden ließen. Zu dieser Zeit ging es mir bereits sehr schlecht. Es war fast normal, ständig Kummer zu haben.

Aber wirklich schlimm war es, dass der Shutdown so gravierende finanzielle Auswirkungen für uns hatte. Ich konnte nicht mehr arbeiten, musste aber weiter die Miete für die Wohnung und meinen Salon bezahlen.

Das war hart.

Es ist immer noch hart.

Auch wenn wir nicht mit dem Virus infiziert sind, sind wir trotzdem davon betroffen – in einer Weise, die vielleicht sogar noch schlimmer ist, als tatsächlich infiziert zu sein. Bis auf ein paar Wochen waren die Schulen die ganze Zeit über geschlossen. Sie sind immer noch geschlossen. Wir müssen im Haus bleiben. Die Kinder streiten über jede Kleinigkeit. Sie haben es satt, dass alles auf Eis gelegt ist. Sie haben es satt, dass wir uns nichts mehr leisten können.

Ich habe keinerlei finanzielle Sicherheit. Ich habe ständig Angst, dass mir etwas zustößt – denn wie sollen meine Kinder dann überleben?“

Der Fluss Chabur fließt durch die Stadt Zakho. Foto: NTB Scanpix

Alan schnallt sich an. Aber er hat ein ungutes Gefühl – er denkt darüber nach, dass er sich in einer Region mit einer hohen Infektionsrate befindet. Jeden Tag werden im Gouvernement Dohuk, in dem rund 1,3 Millionen Menschen leben, zwischen 300 und 500 neue Covid-19-Fälle registriert. Alan muss sehr vorsichtig sein.

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In Zaxo

Während der Fahrt sprechen Alan und sein Fahrer darüber, wie schnell sich das Coronavirus im Land ausgebreitet hat. Sie erreichen Zaxo. Durch die Stadt fließt der Fluss Chabur. Eine antike Steinbrücke wölbt sich über das Wasser. Auf Irakisch heißt sie Dalal, auf Kurdisch Pira Dalal. Sie ist 114 Meter lang und 16 Meter hoch. Im Frühling machen die Leute oft Picknicks unten am Fluss und rund um die Brücke.

Media Sleman hilft Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden, damit sie wieder selbstständig leben können. Foto: Alan Jalal Ayobi / NRC
Omar Ahmed arbeitet auch für NRC in Zakho. Sein Ziel ist es, Vertriebenen die Möglichkeit zu geben, ihr eigenes Leben selbst in die Hand zu nehmen. Foto: Alan Jalal Ayobi / NRC

Hier trifft Alan seine Kollegen Omar Ahmed und Media Sleman. Sie arbeiten für NRC Flüchtlingshilfe und leisten finanzielle Unterstützung, um die Ernährungssicherheit und Eigenversorgung von Vertriebenen zu verbessern. Sie kennen Arwad, die Frau, die sie interviewen wollen, sehr gut. Omar spricht Arabisch und soll während des Interviews für Alan übersetzen. Sie zeigen ihm den Weg zu ihrer Wohnung. Vor einem dreistöckigen Wohnblock halten sie an.

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Dies ist Arwads Geschichte

Mein Name ist Arwad. Ich bin 32 Jahre alt und stamme aus Damaskus, der Hauptstadt Syriens. Ich bin frisch geschieden. Ich habe vier Kinder.

Ursprünglich sind wir Kurden. Wir lebten in einem Viertel mit anderen Kurden. Aber ich habe nie Kurdisch gelernt. Ich wuchs mit fünf Brüdern auf und war das einzige Mädchen in der Familie. Ich spielte mit den Jungen und wurde ein bisschen wie sie.

Meine Kindheit war wunderschön. 

Ich schloss die Oberschule ab. Mein Lieblingsfach war Arabisch. Mein Traum war es, Bücher auf Arabisch zu schreiben oder Arabischlehrerin zu werden. Mein Vater wollte jedoch nicht, dass ich mich weiterbilde.

Er arbeitete in einem Möbelgeschäft und war eine Zeit lang auch beim syrischen Militär. Er starb vor eineinhalb Jahren. Er war ein guter, bescheidener Mann.

Wir haben ihn sehr geliebt.

Meine Mutter hat mich immer unterstützt. Als Kind nahm sie mich überallhin mit und so lernte ich die Namen aller Viertel von Damaskus.

Eine Frau versucht mit einem Kinderwagen, so schnell wie möglich von einem Marktplatz zu entkommen, der in Damaskus, der syrischen Hauptstadt, bombardiert wurde. Es wird angenommen, dass mindestens 31 Menschen getötet wurden. Foto: NTB Scanpix/ Bassam Khabieh/ NO ARCHIVES
Yarmouk liegt außerhalb von Damaskus. Früher ein palästinensisches Flüchtlingslager, entwickelte es sich zu einem großen und gut funktionierenden Teil der Stadt. Vor Kriegsbeginn 2011 lebten hier rund 160.000 palästinensische Flüchtlinge und mehr als eine halbe Million Syrer. Yarmouk wurde 2012 zum Schlachtfeld. Dieses Foto stammt aus dem Jahr 2020. Foto: NTB Scanpix/Louai Beshara/AFP

Als ich die Schule abgeschlossen hatte, unterstützte meine Mutter mich dabei, einen Beruf zu erlernen. Unsere Nachbarn hatten einen Kosmetiksalon, und als ich 17 war, begann ich dort zu arbeiten. Nach zwei Jahren hatte ich fast alles gelernt. 

Ich heiratete. Und dann begann ich, zu Hause Kundinnen zu empfangen.

Flucht vor den Bomben

Dann kam der Krieg.  

Es begann mit Demonstrationen. Dann kamen die Bomben. Unser Viertel wurde mehrmals getroffen.

Können Sie sich das vorstellen? Es war furchtbar. 

Zwei meiner Brüder zogen nach Kurdistan, Irak. Ich folgte ihnen später mit meiner Mutter und meinen Kindern. Mein Mann blieb in Syrien, um Arbeit zu finden. Der Plan war, dass wir sechs Monate in Kurdistan bleiben und dann zurückkehren würden, wenn sich die Lage beruhigt hatte. 

Aber der sogenannte Islamische Staat übernahm die Kontrolle über mehrere Regionen in Syrien und wir konnten nicht mehr zurück nach Hause.

Ein neues Leben in Kurdistan

Schließlich kam mein Mann ebenfalls zu uns nach Kurdistan. Er fand einen Job in der Lebensmittelproduktion und ich arbeitete kurzzeitig in einer Firma, die Glas herstellte. Aber das war schwierig, weil ich meine jüngste Tochter noch stillte. Jeden Tag brachte mein Sohn mir das Baby zur Arbeit, damit ich es stillen konnte.

Ich war so müde.

Dies sollte ihr neues Leben sein: der Schönheitssalon in Zakho. Dann kam die Pandemie in die Stadt. Arwad hat die Hoffnung jedoch nicht aufgegeben. Foto: Alan Jalal Ayobi / NRC

Das Leben war schwierig, als wir nach Zaxo kamen. Wir kamen aus einem anderen Land mit einer anderen Sprache. Für einige der Kinder war es besonders schwer, sich hier einzufinden.

Aber ich schaffte es, die Kinder in der Schule anzumelden. Das ist mein Traum: dass alle vier Kinder eine gute Schulbildung erhalten. Ich habe drei Töchter und einen Sohn. Meine älteste Tochter, Tasnim, studiert jetzt im zweiten Jahr Betriebswirtschaftslehre an der Universität. Mein Sohn heißt Mohamed, er ist im zweiten Jahr der Sekundarstufe II. Sana ist in der sechsten Klasse und Jana in der vierten.

Fünf wundervolle Tage

Im vergangenen Frühjahr fand ich einen Raum, den ich mietete, um einen Kosmetiksalon zu eröffnen. Der Raum musste jedoch renoviert werden und ich hatte nicht genug Geld dafür. Eines Tages erhielt ich eine E-Mail von einer Freundin. Sie schickte mir einen Link zu NRC Flüchtlingshilfe, wo man einen finanziellen Zuschuss für die Gründung eines kleinen Unternehmens beantragen konnte. Das tat ich.

Und erhielt eine positive Rückmeldung.

Nach einem Tipp einer Freundin wandte sich Arwad an NRC, um Hilfe bei der Gründung ihres eigenen Unternehmens zu erhalten. Foto: Alan Jalal Ayobi / NRC

Zuerst musste ich einen fünftägigen Kurs von NRC Flüchtlingshilfe besuchen. Das waren die fünf besten Tage meines Lebens. Ich hatte so viel Spaß. Ich lernte so viel.

Aber dann kam die Pandemie. Alles wurde auf Eis gelegt.

Im Mai bekam ich Gott sei Dank finanzielle Unterstützung von NRC Flüchtlingshilfe. Sie zahlten das Geld in zwei Raten aus. Mit dem Geld renovierte ich den Salon. Ich habe nicht alles fertigbekommen, aber das meiste habe ich geschafft.

Arwads Botschaft an die Welt

Sie wird still.

Alan sieht sie an. Er fragt:

„Wenn du der Welt etwas mitteilen könntest, Arwad, was würdest du sagen?“

"Eine Person sollte ihr Bestes geben, um ihre Träume zu erfüllen", sagt Arwad. Foto: Alan Jalal Ayobi / NRC

„Ich würde sagen, selbst wenn der Krieg viele Leben zerstört, er kann die Menschen auch stärker machen. Er kann einen zu einem besseren Menschen machen. Ein Mensch sollte stark genug sein, mit jeder Situation umgehen zu können. Wenn man Mutter ist, darf man niemals seine Kinder aufgeben. Ganz gleich, wie hart das Leben sein mag.“

Ihre Augen lächeln jetzt. Sie sagt:

„Ein Mensch sollte sein Bestes tun, um seine Träume zu verwirklichen. Und wenn das nicht klappt, dann sollte man seinen Kindern helfen, ihre Träume zu verwirklichen.“

Alan denkt: Arwad ist stark.

Sie hat Hoffnung.