Jemen-Krise:

Sechs Jahre Zerstörung

Ahmed, mittlerweile 17, verlor sein Augenlicht und eine Hand durch einen Sprengkörper in seinem Heimatdorf Lahj, als er erst 11 Jahre alt war. Foto: Mahmoud Al-Filastini/NRC Flüchtlingshilfe

Ahmed, mittlerweile 17, verlor sein Augenlicht und eine Hand durch einen Sprengkörper in seinem Heimatdorf Lahj, als er erst 11 Jahre alt war. Foto: Mahmoud Al-Filastini/NRC Flüchtlingshilfe

Der Krieg im Jemen geht ins siebte Jahr. Wieder einmal gerät das Land in die Schlagzeilen, weil eine neue Hungersnot Millionen von Menschen bedroht. Doch dies ist nur die jüngste in einer Reihe von Tragödien für die Nation, die alle durch den nicht enden wollenden Konflikt verursacht wurden und die alle hätten verhindert werden können.


Sechs brutale Jahre voller Luftangriffe, Granaten, Gewehrfeuer, Angst und Zerstörung haben das Land fast bis zur Unkenntlichkeit verwüstet. Die Küstenstadt Aden, ein ehemals beliebter Urlaubsort, ist mit Schutt und Ruinen übersät. Fruchtbares Ackerland, das über Generationen gute Erträge gebracht hatte, liegt brach. Stromnetze sind lahmgelegt und Krankenhäuser wurden zerstört oder haben keine Ressourcen mehr.

Schätzungsweise 4 Millionen Jemenitinnen und Jemeniten haben aus Angst ihre Heimat verlassen. Über 20 Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ob es die Schulen sind, die die Kinder besuchten, oder die Straßen, die früher die Lebensmittelversorgung in den Städten sicherten – es gibt keine Facette des alltäglichen Lebens, die nicht betroffen ist.

Für die humanitären Organisationen, die unter diesen Bedingungen eine Hungersnot abzuwenden versuchen, ist es ein schier aussichtsloser Kampf. Als Covid-19 den Jemen erreichte, berichteten Familien uns, dass sie alle Energie darauf verwenden müssten, etwas zu essen zu finden, und die Sorge vor einer Ansteckung für sie zweitrangig sei.

Jetzt muss das Land mit immensen Kürzungen der Hilfsgelder zurechtkommen, die das Hilfsangebot noch weiter einschränken. Und jeden Tag gibt es weitere Zerstörung: Eine weitere Klinik, ein weiteres Haus, eine weitere Schule wird getroffen, noch mehr Menschen fliehen vor Schüssen und Bomben, und noch mehr Kinder verhungern.

Die Frage, die die Menschen immer wieder stellen, lautet:

„Warum lässt die Welt uns im Stich?“

In Zusammenarbeit mit lokalen jemenitischen Fotografen hat NRC Flüchtlingshilfe mit Familien im ganzen Land darüber gesprochen, wie ihr Leben vor dem Krieg aussah, und sie gebeten, der Welt zu zeigen, wie sie jetzt leben. Es sind nur ein paar Geschichten von vielen.

NRC Flüchtlingshilfe setzt sich dafür ein, Geflüchtete und Vertriebene in über 30 Ländern auf der ganzen Welt zu unterstützen, so auch im Jemen. Unterstützen Sie unsere Arbeit!

Ahmed

Foto: Mahmoud Al-Filastini/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Mahmoud Al-Filastini/NRC Flüchtlingshilfe

Ahmed Abdullah war elf Jahre alt, als seine Schwester einen Gegenstand aufhob und ihn warf. Der Gegenstand entpuppte sich als Sprengkörper, der nach einem Kampf ein paar Monate zuvor in ihrem Heimatdorf Lahj zurückgeblieben war.

„Alles wurde dunkel“, sagt Ahmed. „Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, aber es ist noch immer dunkel.“

Ahmed verlor sein Augenlicht und eine Hand. Sein Bruder starb. Während des Kriegs im Jemen wurde fast jede Art von Sprengstoff eingesetzt und noch immer liegen im ganzen Land nicht explodierte Sprengkörper herum.

In den Statistiken tauchen häufig nur die Toten auf, jedoch auch Verletzungen können Leben erschüttern. Ahmed, mittlerweile 17 Jahre alt, tut sein Bestes, um durch das Hochladen von Telefonguthaben für andere Geld zu verdienen.

Foto: Mahmoud Al-Filastini/NRC Flüchtlingshilfe

„Ich konnte nicht mehr zur Schule gehen, weil es hier keine Schule für Blinde gibt“, sagt er. „Ich kann nicht so wie andere Kinder in meinem Alter leben. Aber ich versuche, das Leben zu genießen.“

Ein Drittel aller Todesfälle und Verstümmelungen durch nicht explodierte Sprengkörper im Jemen im vergangenen Jahr betrafen Kinder. Unter ihnen ist auch Ahmeds Schwester: Ein Sprengkörper detonierte, während sie Abfall wegräumte, und verletzte sie ein zweites Mal.

Foto: Mahmoud Al-Filastini/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Mahmoud Al-Filastini/NRC Flüchtlingshilfe

Maher

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Seit Beginn des Krieges hat Ladenbesitzer Maher Al-Shaibani beobachtet, wie sich die Kosten für den Transport von Mehl vervierfacht haben, wodurch die Lebensmittelpreise ebenfalls stark gestiegen sind – und das in einem Land, in dem ohnehin schon viele Menschen hungern.

„Die Hauptstraßen in die Stadt Taizz sind blockiert“, sagt er, „also müssen wir unsere Ware durch Täler und Berge transportieren, wo die großen Lastwagen nicht fahren können. Früher dauerte die Fahrt von der Stadt nach Al-Hawban fünf Minuten, jetzt sind es fünf Stunden.“

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Vor Mahers Laden werden Mehlsäcke abgeladen. „Wir hoffen, dass die Straßen wieder freigegeben werden und wir wieder wie früher sicher reisen und die Ware hierher bringen können. Die blockierten Straßen sind hauptverantwortlich für die steigenden Lebensmittelpreise und viele Menschen können sich das nicht mehr leisten“, sagt er.

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Muhsanah

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

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Vor dem Krieg arbeitete Muhsanah Al-Odainis Mann in Saudi-Arabien und schickte von dort Geld nach Hause.

„Geräte wie Kühlschränke waren früher in jeder Familie ganz normal“, sagt sie. „Aber seit Beginn des Krieges haben wir keinen Strom mehr. Wir haben fast vergessen, dass es so etwas wie Elektrizität überhaupt gibt.“

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

„Wir haben Solarmodule für die Beleuchtung gekauft, aber die können keinen Kühlschrank, Waschmaschine oder irgendein anderes Gerät betreiben. Im Kühlschrank bewahren wir jetzt Kleidung und andere Sachen auf“, erzählt sie uns. „Mein Mann versucht, unsere Geräte zu verkaufen, aber niemand kann solche Dinge gebrauchen.“

Muhsanahs Familie benutzt Solarmodule für die Beleuchtung im Haus, aber diese werden häufig von verirrten Kugeln getroffen. „Dann sitzen wir im Dunkeln, bis wir ein Neues kaufen können“, erklärt Muhsanah.

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Mohammed

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Selbst Ärzte und Pflegepersonal sind in Gefahr. Dr. Mohammed Al-Faqeeh leitete früher ein Labor in Taizz, das er jedoch verlassen musste, in der Region Kämpfe ausbrachen. Als er zurückkehrte, um nach dem Rechten zu sehen, wurde er ins Bein geschossen.

„Ich wurde ins Al-Thawrah-Krankenhaus gebracht“, sagt er. „Aber ich leider immer noch unter der Verletzung. Ich kann nicht mehr normal laufen wie jeder andere. Das Gesundheitssystem ist beschädigt und dieser Krieg kostet zu viele Opfer.“

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Trotz seiner Verletzung arbeitet Dr. Al-Faqeeh immer noch im Al-Thawrah-Krankenhaus, in dem auch sein Bein behandelt wurde. Auch sein Labor hat er nicht aufgegeben, sondern kürzlich zusammen mit seiner Mutter und seinem jüngsten Bruder wiedereröffnet.

„Es bringt kein Geld ein wie früher, aber wir versuchen, etwas zu tun, anstatt einfach zu Hause zu bleiben“, sagt er.

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Mona

Foto: Mahmoud Al-Filstini/NRC Flüchtlingshilfe

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Die 15-jährige Mona Ali Ayyash floh vor zwei Jahren mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt Hodeidah. Ihr Vater Ali erklärt, wie sich ihr Leben seitdem verändert hat: „Vor dem Krieg hatten wir ein angenehmes Leben und drei Mahlzeiten am Tag. Jetzt finden wir kaum genug zu essen, um über den Tag zu kommen.“

„Seit wir hier sind, schlafen wir auf dem Fußboden. Wir haben keine Decken, Matratzen oder sonst irgendetwas, auf das wir uns legen könnten. Wir flohen zu Fuß. Ich hatte einen Esel, der aber auf unserer Flucht erschossen wurde. Wie hätten wir zu Hause bleiben sollen, wo uns ständig die Kugeln um die Ohren flogen? Es ist eine Frontlinie.“


Foto: Khalid Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khalid Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Die Zerstörung durch den Krieg ist allgegenwärtig. In Taizz, früher als Kulturhauptstadt des Jemen bekannt, wurden ganze Viertel in Schutt und Asche gelegt. Bis 2019 hatte das umliegende Gouvernement ein Fünftel aller zivilen Todesopfer im Land zu beklagen.

Im ganzen Land wurden Krankenhäuser, Schulen, Häuser und Wassernetzwerke beschossen, wodurch die Versorgung des Landes zusammengebrochen ist und die Wirtschaft lahmgelegt wurde.

Abdullah

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khalid Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khalid Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Abdullah Hasan Al-Shara’ai besaß früher in Taizz ein Haus, das groß genug war, um es noch an andere Familien zu vermieten. Dann zwangen die Kämpfe ihn und seine Familie zur Flucht. Als Abdullah zurückkehrte, um nach seinem Haus zu sehen, stellte er fest, dass Granaten Löcher in Wände und Decken geschlagen hatten.

Der ehemalige Vermieter ist nun praktisch obdachlos und kann seine eigene Miete nicht bezahlen. „Ich habe alles verloren, was ich hatte. Wir wohnen derzeit in zwei Zimmern in einem alten Hotel“, sagt er.

Foto: Khalid Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Abdullah hat Teile der Granate behalten, die sein Haus beschädigt und unbewohnbar gemacht hat. Die Zerstörung geht ungebremst weiter, selbst jetzt: Allein seit Anfang 2021 wurden schätzungsweise 647 Wohnhäuser im ganzen Land getroffen.

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Ahmed

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Der zwölfjährige Ahmed Al-Yousofi gehört zu den 1.150 Kindern, die in einem halb fertigen Haus in der Nähe der Frontlinie in Taizz zur Schule gehen.

„Es ist die einzige Schule in der Gegend“, sagt er. „Ich gehe mit meinen zwei Brüdern. Der Unterricht findet in einem überfüllten Raum statt. Manchmal, wenn wir Kämpfe oder Granaten hören, vergessen wir, dass wir in der Schule sitzen, und hören einfach nur auf die Geräusche, in der Sorge, dass sie näherkommen.“

„Ich möchte eine Schule besuchen, die sicher ist, und in der es Klassenräume, Fenster, Stühle und Tafeln gibt. Ich will nur dem Lehrer zuhören, keinen Kampfgeräuschen.“

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

So viele Kinder kommen hierher, dass es im Innenbereich nicht genug Platz für alle gibt. Einige Unterrichtsstunden finden daher draußen auf dem Boden statt. Drinnen wird der Unterricht ohne Tische und Stühle in überfüllten Räumen abgehalten – selbst inmitten der Covid-19-Pandemie.

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Khaled Al-Banna/NRC Flüchtlingshilfe

Naji

Foto: Mohammed Hassan/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Mohammed Hassan/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Mohammed Hassan/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Mohammed Hassan/NRC Flüchtlingshilfe

Vor dem Krieg verkaufte Naji Ahmed in der Nähe der saudi-arabischen Grenze Gewürze. Nach einem Luftangriff, bei dem sein Haus getroffen wurde und sechs seiner Geschwister starben, floh er nach Amran.

„Nach unserer Ankunft in Amran schliefen wir eine Woche lang auf der Straße“, erzählt er. „Dann halfen die Leute uns. Sie gaben uns Plastikplanen und wir ließen uns in diesem Lager nieder. Ich versuchte, Arbeit zu finden, aber letzten Endes musste ich meine Kinder zum Betteln auf den Markt schicken. Wir essen übrig Gebliebenes von Restaurants. Das ist unsere Hauptnahrungsquelle.“

Foto: Mohammed Hassan/NRC Flüchtlingshilfe

Naji Ahmed zeigt die Narben, die von dem Angriff zurückgeblieben sind, der seine sechs Geschwister das Leben kostete. „Ich kam erst im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein. Mein Bein und meine Hand waren verletzt. Meine Frau war vom Anblick einer der verbrannten Leichen traumatisiert. Sie leidet bis heute darunter.“

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Muhsen

Foto: Hamza Al-Qadaimi/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Hamza Al-Qadaimi/NRC Flüchtlingshilfe

Muhsen Murhshed hat sein ganzes Leben lang Ackerbau betrieben. Vor drei Jahren jedoch musste seine Familie in ein provisorisches Lager außerhalb der Wüstenstadt Ma’rib fliehen. „Früher lebten wir inmitten von grünen Feldern“, sagt er. „Jetzt sind wir von Staub und Brachland umgeben.“

Seit Februar sind Hunderttausende vertriebene Familien wie Muhsens von heftigen Kämpfen bedroht, die in Ma’rib stattfinden. „Die Kämpfe kommen jeden Tag näher. Manche haben das Lager schon verlassen, aber ich habe eine große Familie und weiß nicht, wo wir sonst hingehen sollten.“

Foto: Hamza Al-Qadaimi/NRC Flüchtlingshilfe

Muhsen geht durch das Lager, um Wasser für seine Bäume zu holen. „Ich habe ein paar kleine blühende Bäume rund um unser Zelt gepflanzt, denn ich liebe das Grün. Für einen Landwirt ist es schwer, in der Wüste leben zu müssen“, sagt er.

Foto: Hamza Al-Qadaimi/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Hamza Al-Qadaimi/NRC Flüchtlingshilfe