Burkina Faso:

Kinder haben Angst vor der Schule

Als Saïbata erfuhr, dass sie nach einem Jahr Pause endlich wieder zur Schule gehen könne, war sie nicht etwa begeistert, sondern spürte Angst. Für die Zwölfjährige war die Schule einfach kein sicherer Ort.

Saïbata, 12. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Schulbücher der zweiten Klasse in Burkina Faso. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Saïbata, 12. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Second grade school books in Burkina Faso. Photo: Ingebjørg Kårstad/NRC

„Es war nicht wegen Corona. Das lag daran, dass wir gejagt wurden.“
Saïbata, 12

Viele Kinder rund um die Welt haben durch Covid-19, den weitgehend unsichtbaren Feind, viele Probleme und Ängste erlebt. Saïbatas Ängste hingegen waren sehr viel greifbarer. Als wir sie fragen, ob die Pandemie die Ursache für die einjährige Schulpause war, schüttelt das stille Mädchen den Kopf. „Es war nicht wegen Corona. Das lag daran, dass wir gejagt wurden.“

Angriffe auf Schulen

Seit 2016 greift die Gewalt aus dem Norden Malis auf das benachbarte Burkina Faso über, wo sie sich später noch weiter verbreitete und verschärfte.

Im Kreuzfeuer zwischen bewaffneten Gruppen, Anti-Terror-Operationen und Selbstverteidigungskräften wurden während der letzten zwei Jahre über 1,2 Millionen Menschen in Burkina Faso aus ihrer Heimat vertrieben. Vertreibung in diesem Ausmaß gab es in diesem Binnenland, das früher als Musterbeispiel für Stabilität und Frieden galt, noch nie.

Kinder, die über 60 Prozent der vertriebenen Bevölkerung ausmachen, zahlen für die Gewalt einen hohen Preis. 350.000 Kinder mussten infolge des Konflikts die Schule abbrechen, wobei Burkina Faso im Zeitraum seit 2019 die höchste Anzahl von Angriffen auf das Bildungswesen in der zentralen Sahelzone verzeichnet.

Radikale bewaffnete Gruppen greifen gezielt Schulen an. Sie haben bereits Lehrkräfte entführt und getötet, Einrichtungen in Brand gesteckt und geplündert. Für sie sind Schulen ein Symbol des Staates, den sie zu Fall bringen wollen, der Inbegriff der westlichen Bildung, die sie verachten.

Souleymane (im Vordergrund) und die anderen Kinder in dieser Schule in Barsalogho waren alle durch den Konflikt zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Souleymane (im Vordergrund) und die anderen Kinder in dieser Schule in Barsalogho waren alle durch den Konflikt zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Lernen, die Angst zu überwinden

Da die Schulen zu einer solchen Zielscheibe geworden sind, bringen die Kinder sie mehr und mehr mit Gefahr in Verbindung.

Im vergangenen Oktober wurde in Barsalogho, wo Hunderte vertriebene Familien Zuflucht gesucht hatten, eine Schule für vertriebene Kinder eröffnet. Viele hatten dabei jedoch gemischte Gefühle. In den ersten Schultagen herrschte große Nervosität.

Das Klassenzimmer. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Schulleiter Hamado Ouedraogo erinnert sich, wie Kinder vor Angst nach draußen rannten, wenn sie bloß das Geräusch eines vorbeifahrenden Motorrads hörten. Bewaffnete Motorradfahrer, die Gemeinden überfallen und die Bevölkerung terrorisieren, waren in den konfliktbetroffenen Teilen des Landes so alltäglich geworden, dass der Gebrauch von Motorrädern in einigen Gebieten verboten wurde, um die Gewalt einzudämmen.

Unabhängig davon, ob sie Monate oder wie Saïbata nur Wochen zuvor in Barsalogho Zuflucht gefunden hatten, hatten die meisten der vertriebenen Kinder noch immer mit den Erinnerungen an die plötzlichen Angriffe und die überstürzte Flucht zu kämpfen – selbst diejenigen, die schon seit mehreren Monaten in Barsalogho waren.

Viele hatten Angst, dass sich alles hier wiederholen könnte und dass die Schulen erneut zu einem Brennpunkt werden würden, den man besser mied. Etwa 675 Kinder wurden an der Schule angemeldet, aber Dutzende von ihnen kamen zu Beginn erst gar nicht.

Schulleiter Hamado Ouedraogo. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

„Wir wussten nicht, was wir tun sollten“, erinnert sich Ouedraogo.

„Wir haben die Aufgabe zu unterrichten, aber wie soll man das machen, wenn die Kinder so angespannt und traumatisiert sind?“

Die Lehrkräfte mussten zunächst einmal lernen, wie sie den Kindern Sicherheit geben konnten. Hier kam das Vorzeige-Bildungsprogramm von NRC Flüchtlingshilfe, das Better-Learning-Programm (BLP) ins Spiel.

Das Klassenzimmer. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Das Klassenzimmer. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Schulleiter Hamado Ouedraogo. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Schulleiter Hamado Ouedraogo. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Photo: Ingebjørg Kårstad/NRC

Photo: Ingebjørg Kårstad/NRC

Wie das Better-Learning-Programm (BLP) Schülerinnen und Schülern dabei hilft, ihre Ängste zu überwinden:

  • Das Pilotprojekt startete in diesem Jahr in Barsalogho. Es war das erste Mal, dass das BLP in einem französischsprachigen Land durchgeführt wurde.
  • 34 Mitarbeitende wurden geschult, von Inspektoren der Schulbezirke bin hin zu Lehr- und pädagogischen Hilfskräften.
  • Über 1.600 Schülerinnen und Schüler nehmen täglich oder wöchentlich an diesem psychosozialen Programm teil, bei dem Entspannungsübungen wie Atemübungen und andere Bewältigungsstrategien in den regulären Lehrplan integriert werden.

Wie auf dieser Tafel zu sehen, ist die Anwesenheitsquote mittlerweile sehr hoch. Alle 82 Kinder in Saïbatas 2. Klasse waren am Tag unseres Besuchs in der Schule.

„Wir stellen fest, dass die Kinder sich im Unterricht besser konzentrieren und dass ihre Hausaufgaben besser werden“, sagt Ouedraogo.

„Sie haben ihre Ängste überwunden. Sehen Sie, sie spielen! Das haben sie anfangs nicht getan. Sie haben keine Angst mehr. Wenn ein Fahrzeug vorbeifährt, schauen sie aus dem Fenster, aber springen nicht auf und bleiben bei der Sache.“

„Jede Sekunde, die sie im Klassenraum verbringen, sei kostbar, da diese Kinder drei Jahre Stoff nachholen müssten“, sagt Ouedraogo.

Saïbata beispielsweise besucht die zweite Klasse, obwohl sie schon zwölf Jahre alt ist. Während ihrer erzwungenen Auszeit, als ihre Schule geschlossen war, verkaufte sie vormittags Trinkwasser am Straßenrand. Sie betont ausdrücklich, dass sie nicht dazu gezwungen war. Sie hatte einfach nichts Besseres zu tun und ihre Eltern ließen sie den Verdienst als Taschengeld behalten. Auf die Frage, was sie damit kaufen würde, zeigt sie auf ihre Kleidung.

Bildung wird sträflich vernachlässigt

Viele der vertriebenen Kinder in Barsalogho schätzen sich glücklich, an einem Ort Zuflucht gefunden zu haben, an dem sie Zugang zu Bildung haben – insbesondere, da diese hier dank der Unterstützung von Organisationen wie NRC Flüchtlingshilfe kostenlos ist. Obwohl die Kinder noch so jung sind, ist ihnen bewusst, dass sie eine Minderheit sind.

Rund drei von vier vertriebenen Kindern in Burkina Faso haben keinen Zugang zu irgendeiner Form von Bildung, weder zu formeller noch zu informeller. Nachdem sie gezwungen waren, aus ihrer Heimat zu fliehen, kommen diese Kinder häufig an Orte, wo die Schulen überfüllt und personell unterbesetzt sind und daher die vielen Neuankömmlinge nicht aufnehmen können.

Der humanitäre Reaktionsplan in Burkina Faso ist massiv unterfinanziert. Davon betroffen ist insbesondere der Bildungssektor, wo nur 27 Prozent der benötigten Mittel zur Verfügung stehen. Die unzureichende Finanzierung trägt dazu bei, dass Burkina Faso im zweiten Jahr in Folge zu den am meisten vergessenen Krisen der Welt zählt.


NRC Flüchtlingshilfe unterstützt Schulen wie diese in Barsalogho, aber es werden dringend mehr Mittel gebraucht, damit mehr Kinder eine Schule besuchen können.

Nafi Zango, 8. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Nafi Zango, 8. Photo: Ingebjørg Kårstad/NRC

Eltern können sich den Schulbesuch ihrer Kinder nicht leisten

Die achtjährige Nafi Zango hat noch nie eine Schule von innen gesehen.

Sie floh mit ihrer Familie nach Kaya, ein paar Autostunden von Barsalogho entfernt. Die Stadt Kaya hat in den letzten Jahren die meisten Vertriebenen aufgenommen und damit ihre Bevölkerung verdoppelt. Der humanitäre Bedarf, einschließlich des Bildungssektors, ist infolgedessen riesig.

Yabyouré Zango, Nafis Vater, sagt, Nafi zur Schule zu schicken würde 10.000 CFA-Francs (umgerechnet ca. 15 Euro) für Bücher und Material kosten – ungefähr derselbe Betrag, den er monatlich für die Miete aufbringen muss. Und selbst das schafft er kaum.

Yabyouré Zango, Vater der achtjährigen Nafi. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Die bescheidenen finanziellen Reserven der Zangos wurden im Laufe der Jahre durch mehrere Zwangsvertreibungen aufgezehrt. Die Kämpfe in ihrer Heimatstadt Arbinda trieben sie vor drei Jahren zur Umsiedlung, bis sie im vergangenen Jahr erneut vertrieben wurden.

„Eines Morgens drangen bewaffnete Männer in unser Dorf ein“, sagt Yabyouré. „Wir versteckten uns im Busch und mussten zusehen, wie sie unser Haus in Brand steckten. Als sie wieder gingen, kamen wir heraus, um den Schaden zu begutachten. Da war nichts mehr zu retten. Es war alles niedergebrannt. Wir flohen noch am selben Tag.“

Die Familie Zango. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Unter den persönlichen Dingen, die dem Feuer zum Opfer fielen, waren auch die Geburtsurkunden von fünf seiner Kinder. Um die Kinder an der Schule anmelden zu können, müsse er Duplikate ausstellen lassen – was zusätzliche Kosten bedeuten würde, die die Familie nicht stemmen kann.

Yabyouré Zango, Vater der achtjährigen Nafi. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Yabyouré Zango, Vater der achtjährigen Nafi. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Die Familie Zango. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Die Familie Zango. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Ein Grund, jeden Tag zu singen

Saïbata, 12, ist glücklich, dass sie zur Schule gehen kann. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Saïbata, 12, ist glücklich, dass sie zur Schule gehen kann. Foto: Ingebjørg Kårstad/NRC Flüchtlingshilfe

Ursprünglich war das Lied ein Aufruf an burkinische Migrantinnen und Migranten auf dem ganzen Kontinent, in ihr Heimatland zurückzukehren. Inzwischen ist es zu einer Hymne für die im eigenen Land Vertriebenen geworden.

Saïbata sagt, die Rückkehr nach Hause sei im Moment nur ein Luftschloss. Was auch immer ihre Eltern entscheiden, sie möchte das neu gewonnene Gefühl von Sicherheit und Sinn, das sie in ihrer neuen Klasse gefunden hat, nicht aufgeben.

„Ich würde hierbleiben, selbst wenn sie zurückkehren würden. Ich möchte hierbleiben, in der Schule“, sagt sie.


Bildung muss Priorität haben

Bildung wird bei der humanitären Reaktion auf Konflikte und Vertreibung schon viel zu lange vernachlässigt.

NRC Flüchtlingshilfe sieht nicht tatenlos zu, wie Generationen von Kindern darunter leiden. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit, um sicherzustellen, dass mehr Kinder wie Saïbata in sicheren und freundlichen Schulen ihren Platz wiederfinden können.