Vater sein in einem endlosen Konflikt

Yousef spielt mit seiner dreijährigen Tochter Eliaa. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Es war die sechste Nacht mit massiven israelischen Luftangriffen. Man konnte sich nirgends verstecken. Wie sollte Yousef es schaffen, seine schwangere Frau und sein Kind zu beschützen? Seine Arme um sie zu legen, war alles, was er tun konnte.

„Ich lebe für meine Kinder; kein Vater liebt seine Kinder mehr als ich. Aber da, in dieser wahnwitzigen Nacht, hatte ich einen wilden Gedanken: Hier in Gaza ist es nicht richtig, Kinder in die Welt zu setzen.“

„Der Gedanke erfüllte mich mit Trauer“, sagt Yousef Hammash.

„Eliaa ist eine kleine Nervensäge“, sagt Yousef, 29. „Wirklich wahr!“

When he talks about his family, his eyes smile:

Wenn er über seine Familie spricht, lächeln seine Augen:

„Eliaa will alles wissen. Sie ist klug. Meine Frau, Manal, die an der Uni Arabische Literatur studiert, kann unglaublich gut mit ihr umgehen. Eliaa spricht schon Englisch. Wörter wie zum Beispiel ‚strawberries’ sind für eine Dreijährige nicht leicht auszusprechen! Sie kann zum Beispiel auf Englisch sagen: ‚Mama, kann ich eine Banane haben?’ oder ‚Kann ich Erdbeeren haben?’

Und mein Sohn, Ahmad? Ja, er ist wie ein Eliaa Nummer Zwei. Tagsüber schläft er und nachts ist er wach. Ahmad hört nur auf zu weinen, wenn ich herumlaufe und ihn in den Armen wiege“, sagt Yousef. Er faltet seine Arme und wiegt sie hin und her, um zu zeigen, wie er seinen Sohn beruhigt.

Yousefs kleiner Sohn wurde am 18. Juni 2021 in Gaza geboren, gerade einmal zwei Wochen nach den verheerenden Bombengriffen im Mai.

Da Männer in der Geburtsstation des Krankenhauses nicht zugelassen sind, musste Yousef draußen warten. Er war nervös und besorgt, dass etwas schiefgehen könnte, während er darauf wartete, dass eine Krankenschwester mit dem Baby herauskam.

Ein Freund von Yousef hielt die erste Begegnung zwischen Vater und Sohn auf Video fest:

Nichts „Extravagantes“

Yousef heiratete Manal Aljori, 23, im Jahr 2017. Das junge Ehepaar wollte bis zum ersten Kind eigentlich ein paar Jahre warten. Die große Hochzeitsfeier hatte viel Geld gekostet und sie wollten etwas Geld sparen, bevor sie eine Familie gründen.

Yousef am Tag seiner Hochzeit (im blauen Anzug in der Mitte). Foto: Privat

Yousef am Tag seiner Hochzeit (im blauen Anzug in der Mitte). Foto: Privat

„Aber dann wurde Manal schwanger und wir bekamen Eliaa“, sagt Yousef.

Er lächelt und fährt fort:

„Meine Tochter hat ein eigenes Zimmer. Es bedeutet mir viel, dass ich ihr das bieten kann. Mein Vater wurde früh arbeitslos und ich wuchs in Armut auf. Ich möchte, dass meine Kinder ein gutes Leben haben. Nichts ‚Extravagantes’, aber ein normales, bürgerliches Leben.

Ich selbst hatte kein eigenes Zimmer, bis ich verheiratet war. Ich werde niemals das Gefühl vergessen, dass ich hatte, als ich einmal vor unserem Einzug ganz allein in unserer neuen Wohnung war.“

Er tippt mit dem Zeigefinger auf den Tisch und sagt:

„A-L-L-E-I-N. Zum allerersten Mal hatte ich etwas Eigenes. Es war unbeschreiblich.“

Dann wird sein Gesichtsausdruck fast ernst und er sagt:

„Aber obwohl Eliaa ein eigenes Zimmer hat, schlafen beide Kinder bei uns. Wir müssen zusammenbleiben. In der Nacht kann alles passieren.“

Yousef im Interview mit CNN nach den Angriffen im Mai 2021.

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Ein Haus unter Beschuss am 12. Mai 2021 im Süden von Gaza (Stadt). Foto: M. Hajjar/NRC Flüchtlingshilfe

Ein Haus unter Beschuss am 12. Mai 2021 im Süden von Gaza (Stadt). Foto: M. Hajjar/NRC Flüchtlingshilfe

Die Eskalation der Gewalt im Mai 2021

Am 10. Mai begann das israelische Militär mit Luft- und Seeangriffen sowie Granatenbeschuss auf den Gazastreifen. Auslöser war der Raketenbeschuss durch bewaffnete palästinensische Gruppen, nachdem die Spannungen in Jerusalem wochenlang immer weiter zugenommen hatten.

Am frühen Morgen stürmte die israelische Polizei die al-Aqsa-Moschee im Herzen der Altstadt Jerusalems, auf dem Gelände, das bei den Muslimen als „Heiligtum“ und bei den Juden als „Tempelberg“ bekannt ist. Bei der Konfrontation wurden Hunderte Palästinenserinnen und Palästinenser und mehrere Polizisten verletzt. Der Vorfall fiel mit dem israelischen „Jerusalem-Tag“ zusammen, an dem die Einnahme Ost-Jerusalems im arabisch-israelischen Krieg von 1967 gefeiert wird.

Während des gesamten heiligen Monats Ramadan kam es zu Ausschreitungen zwischen israelischen Streitkräften und palästinensischen Demonstrierenden in und um die Altstadt von Jerusalem. Gleichzeitig verschärften sich die friedlichen Proteste palästinensischer Familien, denen die Vertreibung aus ihren Häusern in Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah drohte, zu täglichen Auseinandersetzungen mit israelischen Siedlern und der Polizei.

Gruppen von israelischen Siedlern griffen in Sheikh Jarrah und anderen Orten in Jerusalem Palästinenser an und setzten dabei bisweilen scharfe Munition ein. Die israelischen Streitkräfte gingen mit massiver Gewalt gegen die palästinensischen Menschenmengen vor und setzten Betäubungsgranaten, Tränengas, Gummigeschosse und Skunk ein (eine übel riechende, nichttödliche Flüssigkeit, die von Fahrzeugen mit Wasserwerfern versprüht wird).

„Palästinensische und israelische Kinder zahlen während derartiger Gewalteskapaden immer den höchsten Preis – und behalten nicht nur körperliche, sondern auch psychische Narben zurück.“
Jan Egeland, Generalsekretär von NRC Flüchtlingshilfe

Diese Spannungen um Ostjerusalem waren der Auslöser für elf Tage heftiger Gefechte zwischen Israel und palästinensischen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen, für Unruhen im Westjordanland und eine Welle von Straßenkämpfen zwischen Juden und palästinensischen Bürgerinnen und Bürgern Israels im ganzen Land.

Über 260 Menschen in Gaza, darunter 66 Kinder, wurden während der Eskalation getötet, so das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR).

Am 21. Mai wurde zwischen Israel und der Hamas ein Waffenstillstand geschlossen, jedoch kam es den ganzen Sommer über entlang des israelischen Grenzzauns zum Gazastreifen immer wieder zu neuen Auseinandersetzungen.

Keine Garantie

Gaza ist schmal, ein 365 Quadratkilometer großer Landstreifen an der Ostküste des Mittelmeers. Es dauert mit dem Auto nur eine Stunde, um vom einen Ende zum anderen zu gelangen.

„Ich glaube, für Außenstehende ist es schwer zu verstehen, wie es ist, hier zu leben. Es gibt hier keine Garantie für irgendetwas. Nicht fürs Leben. Nicht für Arbeit. Für nichts. Man kann von einer Sekunde auf die andere plötzlich arm sein. Oder tot“, sagt Yousef.

Karte des Gazastreifens

Er gehört zu den 2,1 Millionen Menschen, die im Gazastreifen leben. Die Mehrheit, rund 1,4 Millionen, sind palästinensische Geflüchtete aus dem arabisch-israelischen Krieg von 1948 und deren Nachkommen. So auch Yousef.

Laut Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) haben der jahrelange Konflikt, die anhaltenden Auseinandersetzungen und die Belagerungen dazu geführt, dass über 80 Prozent der Bevölkerung auf internationale humanitäre Hilfe angewiesen sind.

In seinem 29-jährigen Leben hat Yousef die Feindseligkeiten in Gaza bereits in den Jahren 2007, Ende 2008 bis Anfang 2009 und 2014 erlebt. Seiner Ansicht nach waren die Bombenangriffe dieser elf Tage im Mai 2021 jedoch die schlimmsten.

Karte des Gazastreifens

Karte des Gazastreifens

Yousef bei der Arbeit bei einem von NRC Flüchtlingshilfe durchgeführten Bildungsprogramm. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Teil von Yousefs Kommunikationsarbeit ist es, die Aktivitäten von NRC Flüchtlingshilfe zu dokumentieren und Fotos und Videos von den Menschen zu machen, denen wir helfen. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Yousef bei der Arbeit bei einem von NRC Flüchtlingshilfe durchgeführten Bildungsprogramm. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Teil von Yousefs Kommunikationsarbeit ist es, die Aktivitäten von NRC Flüchtlingshilfe zu dokumentieren und Fotos und Videos von den Menschen zu machen, denen wir helfen. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Angst vor der Nacht

Yousef war nie ein ängstlicher Typ. Als freiberuflicher Journalist verfolgte er mehrere Jahre lang die Kämpfe und Unruhen in Gaza und produzierte Filmmaterial für internationale Medienunternehmen. Heute ist er als einer von rund 50 Mitarbeitenden für NRC Flüchtlingshilfe im Bereich Kommunikation und Interessenvertretung tätig.

Sein Wesen hat sich verändert – er ist ängstlicher geworden. Der Wandel kam mit dem Tag, als er Vater wurde. Yousef hat Angst, dass seinen Kindern etwas zustoßen könnte. Die Bomben fallen des Nachts, deshalb hat er Angst vor der Nacht.

Er sagt: „Auf Facebook schrieb jemand: ‚Zwei Millionen Menschen im Gazastreifen hassen die Nacht.’ Jetzt bin ich einer von ihnen.“

Die Washington Post

Am 21. Mai 2021 veröffentlichte die Washington Post über Loveday Morris, Chefin des Berlin-Auslandsbüros, ein ausführliches Interview mit Yousef Hammash, in dem er über seine Erfahrungen während der Kämpfe in Gaza spricht.

Die Zeitung veröffentlichte auch seine Videos. In diesem Artikel zitieren wir (in grauer Kursivschrift) Auszüge aus dem Interview.

Am Dienstag, dem ersten Tag, war ich zu Hause und wollte gerade unter die Dusche. Ich wollte zum Haus meiner Eltern; es war Ramadan und wir waren wie immer zum Fastenbrechen verabredet. Meine Frau war im achten Monat schwanger. Meine Tochter war drei. Es war sechs Uhr abends. Sie griffen das Nachbarhaus an. Ich habe heute noch Kopfschmerzen vom Lärm dieses Geschosses. Alle rannten davon, alle schrien. Wir wollten nur wegrennen; normalerweise ist eine Rakete eine Warnung. In diesem Moment hatte ich furchtbare Angst. Ich begann zu filmen, was passiert war. Dann griffen sie mit einer zweiten Rakete an.

Ich ging zum Haus meiner Eltern und blieb die ganze Nacht dort. Es war ein sehr, sehr heftiger Angriff hinter dem Haus. Etwa 30 Luftangriffe in einer Minute. Ich versammelte alle [die Familie] im Flur in der Mitte des Hauses. Ich schrie und sagte allen, sie sollten auf dem Boden bleiben, unten bleiben, da wir nicht wussten, wo der Angriff stattfand. Es war eine wirklich verrückte Nacht.

Yousef, seine Frau Manal und ihre Kinder kaufen Mais auf der Corniche Street am Meer in Gaza (Stadt). Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Es ist ein schöner Tag. Yousef spielt mit seinem vier Monate alten Sohn Ahmad, während er mit seiner Familie am Strand von Gaza (Stadt) sitzt. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Yousef, seine Frau Manal und ihre Kinder kaufen Mais auf der Corniche Street am Meer in Gaza (Stadt). Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Es ist ein schöner Tag. Yousef spielt mit seinem vier Monate alten Sohn Ahmad, während er mit seiner Familie am Strand von Gaza (Stadt) sitzt. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Gaza: wie das Warten auf eine Flutwelle

Gaza ist seit längerer Zeit vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Die israelische Belagerung des Gazastreifens, die von Ägypten unterstützt wird, dauert nun schon seit 14 Jahren an und verursacht großes Leid unter der Zivilbevölkerung.

Darüber hinaus liegt die Arbeitslosenquote mit schätzungsweise 50 Prozent sehr hoch.

Lesen Sie hier mehr über die Situation in Gaza.

Yousef erklärt:

„Im Gazastreifen lebt eine der am besten ausgebildeten Gesellschaften der Welt. Aber selbst mit einem Doktortitel findet man kaum einen Job. Die meisten Menschen müssen sich mit Gelegenheitsjobs zufriedengeben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Ingenieur einen Aushilfsjob in einem Café annimmt.

Als Israel 2007 die Blockade errichtete, gingen uns die meisten Dinge aus. Zum Beispiel Strom und Benzin. Aber die Leute im Gazastreifen sind clever, wir finden immer eine Lösung. Als wir längere Zeit kein Benzin mehr hatten, nahmen wir stattdessen Speiseöl. So meistern wir die Lage, Jahr um Jahr.

Wir haben eine hohe Selbstmordrate. Jede Woche nehmen Menschen sich das Leben. So auch einer meiner Cousins.

In Gaza gibt es kein normales Leben. Es ist wie das Warten auf eine Flutwelle. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde, jeden Moment kann sich plötzlich alles ändern. Zusammenbrechen. Es kann lange Zeit friedlich sein, aber wir merken es, wenn die Spannungen eskalieren. Wir können fast immer abschätzen, wenn die Situation zu kippen droht. Wir spüren, dass es in den nächsten paar Tagen oder in der nächsten Woche passieren wird. Das ist für uns Alltag.“

Zwei Millionen Kriegsgeschichten

Yousef fährt fort:

„Wir sind jeden Tag mit einer Eskalation des Konflikts konfrontiert, wie etwa beim „Großen Marsch der Rückkehr“. [Proteste im Jahr 2018, bei denen die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens das Ende der Blockade und die Rückkehr in ihr Land forderten, in dem 1948 der Staat Israel gegründet wurde.]

„Es gibt keine einzige Familie im Gazastreifen, die nicht während einer Gewalteskalation ein Kind oder anderes Familienmitglied verloren hat. Ich selbst hatte zwei Cousins, die getötet wurden. Mein Bruder wurde verletzt. Unser Haus wurde schwer beschädigt. Und das ist nur meine Geschichte. Und dann gibt es noch die Geschichten von zwei Millionen anderen hier.

Das Problem für die jungen Menschen hier ist, dass wir uns der Situation sehr bewusst sind. Uns ist klar, dass keine Hoffnung besteht, dass es jemals eine Lösung für das hier geben wird.“

Filmaufnahmen, die ein Freund von Yousef am Tag von Eliaas Geburt gemacht hat.

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Das Meer vermittelt ein Gefühl von Freiheit. Hier spielt Yousef mit seinem Sohn Ahmad am Meer in Gaza (Stadt). Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Das Meer vermittelt ein Gefühl von Freiheit. Hier spielt Yousef mit seinem Sohn Ahmad am Meer in Gaza (Stadt). Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Noch nie die Außenwelt gesehen

„Die Menschen, die den Gazastreifen im Jahr 2007 verlassen haben, sind jetzt in ihren Dreißigern und Vierzigern. Die Generation vor uns konnte nach Ägypten oder Israel gehen, um zu studieren. Aber meine Generation nicht.

Ich war noch nie außerhalb von Gaza. Obwohl ich viele Dokumentationen aus dem Gazastreifen gemacht habe und täglich mit Medien- und Filmleuten auf der ganzen Welt in Kontakt bin, habe ich die Außenwelt noch nie gesehen.

Zum Beispiel habe ich in meinem ganzen Leben noch nie einen Zug gesehen.

Ich möchte alles, was ich auf YouTube sehe, auch im wirklichen Leben sehen. Ich möchte wissen, wie es ist, spazieren zu gehen, ohne Angst haben zu müssen. Es ist normal, dass man die Welt sehen möchte.

Aber für uns ist das ein unerreichbarer Traum.

Es gibt dafür keine Rechtfertigung.“

Footage of Gaza from above.

Footage of Gaza from above.

Am folgenden Tag ging ich in meine Wohnung zurück, um ein paar Kleidungsstücke für meine Frau zu holen, denn ich hatte beschlossen, meine Frau und meine Tochter zu ihren Eltern zu schicken. Ich hatte das Gefühl, dass sie dort sicherer wären. Dort gibt es keine hohen Gebäude, es ist ein zweistöckiges Haus ohne Nachbarn. Für meine Eltern war ich der einzige Mann, deshalb blieb ich bei ihnen.

Ich hatte das Haus gerade betreten, es waren nur ein paar Sekunden. Die meisten Fensterscheiben waren zerbrochen und das Schlafzimmer war stark beschädigt.

Dann griffen sie wieder an. Ich rannte zum Fenster. In diesem Moment dachte ich an nichts anderes als ans Wegrennen. Ein Laden in der Nähe wurde getroffen; die Nachbarn versuchten, die Tür aufzubrechen, um das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Ich musste zum Haus meiner Eltern rennen. Und dann beschlossen wir, dass auch meine Eltern von dort fliehen mussten.

Spielen mit Schatten: Yousef wirft Eliaa in die Luft, während seine Frau und sein Sohn zusehen. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Spielen mit Schatten: Yousef wirft Eliaa in die Luft, während seine Frau und sein Sohn zusehen. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Kindheit

Yousef wurde 1992 in einem der Flüchtlingslager im Gazastreifen geboren.

„Ich habe zwei Brüder und vier Schwestern. Ich bin der jüngste Sohn. Wir lebten in dem Flüchtlingslager, bis ich zehn oder elf war.

Mein Vater knüpfte traditionelle Teppiche. Aber die Nachfrage ließ nach, da die Leute begannen, Massenware zu kaufen.

Da wir Geld brauchten, mussten wir unser Haus verkaufen. Aber ein Haus in einem Flüchtlingslager ist nicht viel wert. Das Geld reichte nicht, um eine neue Unterkunft zu kaufen. Wir mussten zur Miete wohnen und zogen oft um.

Wir lebten mit 13 Personen in einer 3-Zimmer-Wohnung mit 90 Quadratmetern. Als meine Schwestern älter wurden, schlief ich auf dem Sofa.

Mit 13 beschloss ich, die Schule abzubrechen. Ich wollte stattdessen arbeiten.“

Ich ging mit ihnen zum Haus meiner Großeltern. Unsere anderen Verwandten hatten auch schon dorthin fliehen müssen, es waren also viele Leute dort. Das Haus hat zwei Zimmer und einen Sitzbereich und es waren 10 bis 15 Personen darin untergebracht. Alle waren angespannt; uns war klar, dass es nirgendwo sicher war.

Am Freitag zog ich ins Haus meines Schwiegervaters; sie bestanden darauf, dass ich dorthin kam. Meine Tochter wartete auf der Treppe auf mich. Sie ist drei Jahre alt, aber sehr aufgeweckt. Ich war glücklich, aber auch voller Angst, und ich behielt sie nah bei mir. Wo auch immer ich hinging, ich wollte, dass sie bei mir war, sie und meine Frau.

Für die Menschen in Gaza ist es unmöglich, sich in Sicherheit zu bringen, da sie den Gazastreifen nicht verlassen dürfen.

Yousef spricht über seine Erfahrungen mit den feindlichen Auseinandersetzungen:

„Ich war auf dem Weg zur Schule, ich glaube, ich war zwölf. Es war das erste Mal, dass ich einen Panzer sah. Er war direkt neben unserem Haus. Das war aufregend. Als die Kämpfe Ende 2008 wieder begannen, war es der reine Wahnsinn. Es dauerte 22 Tage. Ich war 15 Jahre alt. F16-Flugzeuge flogen direkt über unsere Köpfe hinweg.

Das erste Mal, dass ich sah, wie jemand getötet wurde, war im Jahr 2009. Es war mein Cousin. Es geschah direkt vor meinen Augen. Und dann spürte ich das Gefühl, jemanden verloren zu haben, den ich liebte.

Es war ein schreckliches Gefühl.

Im Jahr 2012 war es nicht so schlimm. Die Luftangriffe fanden größtenteils in anderen Regionen Gazas statt. Im Jahr 2014 war ich Journalist und da gab es viele Panzer und schwere Luftangriffe. An einem einzigen Tag wurden über 100 Menschen getötet. Darunter war auch ein Freund von mir.

Zum ersten Mal sah ich Menschen aus ihren Häusern fliehen – zu Tausenden.

Vertrieben zu sein, ist so ziemlich das Schlimmste. Man kann sich nicht selbst helfen, sondern muss andere um Hilfe bitten. Das gibt einem das Gefühl, seine Würde zu verlieren. Und wenn man dann in Sicherheit ist, holt einen das Trauma ein. Man kann an nichts anderes mehr denken als an die schrecklichen Dinge, die man erlebt hat.“

Yousef im Gespräch mit einer Schülerin in einem Bildungszentrum in Gaza, das von NRC Flüchtlingshilfe geleitet wird. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Yousef im Gespräch mit einer Schülerin in einem Bildungszentrum in Gaza, das von NRC Flüchtlingshilfe geleitet wird. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Versorgung seiner Großfamilie

In den Jahren, seit er die Schule abgebrochen hat, hat Yousef fast rund um die Uhr gearbeitet.

„Für meine Familie verantwortlich zu sein, bedeutete nicht nur, Geld für die Miete, Lebensmittel, Medikamente, Kleidung und Schule zu verdienen. Ich musste auch meinen Schwestern mit der Schule helfen und meine Mutter unterstützen, die Herzprobleme hat.

Es war nicht leicht. Aber heute haben zwei meiner Schwestern einen Uniabschluss. Eine studiert Medizin. Die letzte besucht eine Oberschule“, sagt er.

Zuerst bekam Yousef Arbeit in einer Druckerei. Als seine Freunde schließlich ihren Schulabschluss hatten, wollten die meisten von ihnen Medienwissenschaften studieren. Er schloss sich ihnen an und besuchte die Vorlesungen, obwohl er nicht als Student eingeschrieben war.

Er arbeitete als Aushilfe in einer Medien- und Produktionsfirma, wo er vom Kameramann den Umgang mit einer Fernsehkamera lernte. Im Büro hatte er Zugang zu einem Computer und Internet und so lernte er Englisch.

Er bekam einen Job als Kameramann und arbeitete mit ausländischen Fernsehteams, die in den Gazastreifen kamen. Während der Kämpfe im Jahr 2014 war er Freiberufler mit einer eigenen Kamera.

Neben seiner Arbeit für das Palästinensische Zentrum für Demokratie und Konfliktlösung begann er, Schulstoff nachzuholen. Gelegentlich arbeitete er mit Journalisten ausländischer Medienhäuser wie dem britischen Channel 4 und der BBC.

“Geboren um zu leben“

Rund zehn Minuten, nachdem wir uns begrüßt hatten, griffen sie erneut an, in der Nähe des Hauses meines Schwiegervaters. Es gab eine sehr laute Explosion. Meine Tochter spielte zwischen meinen Füßen und ich riss sie hoch und drückte sie an mich. Es war eine normale Reaktion – ich wollte sichergehen, dass es ihr gut ging. Sie schrie vor Schreck auf, nicht wegen der Bomben, sondern wegen meiner Reaktion. Dann wurde mir klar, dass meine Frau sie davon überzeugt hatte, dass das alles nur Feuerwerk sei.

Wir versuchten, das Wort „Bomben“, „qasaf“ auf Arabisch, zu vermeiden. Stattdessen sagten wir „Feuerwerk“. In dieser Nacht gab es schweren Beschuss, schwere Luftangriffe. Wir alle, sogar mein Schwiegervater und seine Frau, wir alle gingen in ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses, das keine Fenster hatte. Wir dachten, das sei der sicherste Ort …

… Ich habe solche Bombardierungen noch nie erlebt. Solche Explosionen. Das Beben des Hauses. Den Lärm. Die massive Zerstörung. Die Straßen wurden zerstört; es gibt Orte in Gaza, die man nicht wiedererkennt. Es ist wirklich krank.

Filmaufnahmen, die Yousef im Mai gemacht hat.

Yousef denkt einen Augenblick nach, bevor er fortfährt:

„In Gaza gibt es keine Lösung.

Wir werden belagert. Sind unter einer Blockade. Aber niemand erfährt von uns. Wir sind Menschen zweiter Klasse.

Gleichzeitig sagen manche Leute in Gaza: ‚Wir wurden geboren, um zu leiden.’ Aber ich sage: ‚Nein! Wir wurden geboren, um zu leben.’

Denn es ist nicht so, wie es so oft dargestellt wird, dass wir hier in Gaza so stark sind und all dem immer und immer wieder klaglos Widerstand leisten. Dass wir aus Stahl gemacht sind.

Nein, wir sind auch nur Menschen.

Wir haben ständig Angst.

Und das ist ganz normal.“

Endlich schlafen

Ich fuhr immer wieder zum Haus meiner Eltern und zurück, um an der Berichterstattung für NRC Flüchtlingshilfe zu arbeiten. Ich arbeitete mit meinem Laptop, verband mich mit dem Internet. Ich suchte mir einen Platz, der durch eine Mauer geschützt war. Im Falle eines Angriffs würde ich verletzt werden, aber wir würden die Anzahl der Opfer verringern.

Ich habe in zehn Tagen nur einmal geduscht und das war die schnellste Dusche meines Lebens. Ich hatte Angst, bombardiert zu werden, während ich nackt war. Deshalb behielt ich meine Unterwäsche an. Selbst meine Frau schlief mit ihrem Hidschab.

Ich wusste nicht, welcher Tag es war. Ich wusste nur, dass ich einen Tag nach dem anderen hinter mich bringen wollte, und falls ich abends noch am Leben war, zum nächsten Tag übergehen. So lebten wir, ich und zwei Millionen andere Menschen.

Als um 2 Uhr nachts der Waffenstillstand verkündet wurde, rief ein Freund mich an und sagte, ich solle auf die Straße gehen und es mir ansehen. „Da sind traurige Gesichter, da sind glückliche Gesichter, es gibt Feuerwerk.“ Um ehrlich zu sein, meine Antwort war: „Ich will schlafen.“ Ich wollte schlafen, ohne Angst vor den Bomben haben zu müssen. Alles, was ich tat, war schlafen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal länger als eine Stunde am Stück geschlafen hatte.

NRC Flüchtlingshilfe wendet sich an die Welt

Yousef und seine Tochter Eliaa. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Yousef und seine Tochter Eliaa. Foto: Mohammed Zaanoun/NRC Flüchtlingshilfe

Sein Gesicht wird ernst:

„Die Welt muss wissen, was hier passiert. Ich bin stolz, dass NRC Flüchtlingshilfe offen und frei über unsere Situation hier spricht. Wir bei NRC Flüchtlingshilfe erheben die Stimme und fordern das Ende der Blockade. Wir sagen den Menschen, dass sie Rechte haben.

„NIEMAND hat über die elf Kinder berichtet [die Kinder, die am Schulprogramm von NRC Flüchtlingshilfe teilgenommen hatten, dass ihnen mit ihren kriegsbedingten Traumata helfen sollte], die im Mai getötet wurden, bevor NRC Flüchtlingshilfe es tat. Erst da wachten die internationalen Medien auf. Aber wir bei NRC Flüchtlingshilfe waren es, die die Welt darauf aufmerksam gemacht haben“, sagt Yousef.

Er verstummt.

Dann sagt er:

„Diese elf Kinder waren genau wie meine eigenen Kinder. Sie waren wie meine Eliaa und mein Ahmad.

Sie wurden geboren, um zu leben.“