Libanon

Hoffnung in den schwersten Zeiten

Eine Brise weht durch die zwei Fenster des Wohnzimmers: eher ungewöhnlich an diesem heißen, trockenen Tag in Ain El Remmaneh, einem Stadtteil von Beirut. Die Hitzewelle, welche die libanesische Hauptstadt wochenlang beherrscht und die Menschen ausgelaugt hat, lässt endlich nach.

Die sehbehinderte Nadine bewegt sich vorsichtig durch den Raum. Ihre Schritte sind schwer und hörbar. Sie setzt sich neben ihre fünfjährige Tochter Joya, die ihrer Mutter etwas ins Ohr flüstert. Sie lächeln sich an.

Als wir sie nach dem Leben im Libanon befragen, antwortet sie mit dem typischen Sarkasmus, für den die Menschen hier bekannt sind, wenn sie mit Problemen konfrontiert werden: „Ganz wundervoll.“ Es klingt wie eine Mischung aus Ironie, Verzweiflung, Widerstand und Hoffnung.

Nadine mit ihrer Tochter Joya auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer in Ain El Remmaneh, Beirut. Foto: Sherbel Dissi/ NRC Flüchtlingshilfe

„Die wirtschaftliche Lage im Libanon ist angespannt, das sieht man an allem und jedem. Alle sitzen im selben Boot“, fährt sie fort.

Nadine, 44, lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern zusammen. Die Familie, die mit mehreren Krisen zu kämpfen hat, hielt sich in den letzten vier Jahren überwiegend mit humanitärer Hilfe über Wasser, da das Einkommen von Nadines Mann nicht ausreicht. Es reicht deshalb nicht, weil er in libanesischen Pfund bezahlt wird, das eine Deflation von 98 Prozent zu verzeichnen hat, während die Lebensmittelpreise um 300 Prozent gestiegen sind.

„Die Probleme im Libanon begannen vor vier Jahren mit dem Aufstand [im Jahr 2019]. Dann kamen Covid-19, die Währungskrise und die Explosion am Hafen von Beirut“, erklärt Nadine. „Es geschah eine Katastrophe nach der anderen und wir hatten kaum Zeit, Luft zu holen. Das sind alles Probleme, die schwer zu bewältigen sind.“

„Früher war es anders. Es gab Herausforderungen, aber unser Einkommen war ausreichend. Jetzt kommen wir kaum über die Runden, obwohl mein Mann arbeitet.“

So oder so ähnlich ist die Lage für viele libanesische Familien, die von der Wirtschaftskrise und ihren langfristigen Folgen hart getroffen wurden. Laut einer neuen Studie des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) im Libanon brauchen schätzungsweise 3,9 Millionen Menschen im Libanon irgendeine Form humanitärer Hilfe, darunter Geflüchtete und 2,1 Millionen bedürftige Libanes*innen.

Foto: Sherbel Dissi/NRC Flüchtlingshilfe

Zuhause ist alles

Das Leben mit einer Sehbehinderung ist schwierig, findet Nadine, insbesondere, wenn sie häufig das Haus verlassen muss. Sie wohnt seit vier Jahren im selben Haus; das macht es für sie sicher und beherrschbar.

„Ich kann das Haus nicht oft verlassen. [Mein Zuhause ist] alles für mich. Ich kenne jede Ecke; hier habe ich mich eingewöhnt.“

Das Thema Wohnen und Miete ist eine ständige Sorge. Als sich die Wirtschaftskrise bemerkbar machte, ahnte sie noch nicht, dass die Miete, die sie sonst immer pünktlich gezahlt hatte, zum Hauptproblem der Familie werden würde. Aufgrund der Währungsdeflation sind die Mietkosten über Nacht in die Höhe geschnellt.

Zahlen von NRC Flüchtlingshilfe zeigen, dass die monatliche Durchschnittsmiete von 2.000.000 libanesischen Pfund (ca. 126 Euro) auf 13.000.000 (ca. 819 Euro) gestiegen ist. Wenn man dem die 5.000.000 Pfund (315 Euro) gegenüberstellt, die ein ungelernter Arbeiter durchschnittlich im Monat verdient, wird sofort deutlich, warum die Menschen kaum genug Geld für das Nötigste haben.

Nadines Küche in Ain El Remmaneh, Beirut. Foto: Sherbel Dissi/ NRC Flüchtlingshilfe

„Ich mag es nicht, wenn der Vermieter vorbeikommt und nach der Miete fragt“, sagt Nadine. „Wenn ich das Geld hätte, würde ich die Zahlung nicht drei Monate lang aufschieben.“

Nadine hat von unserem Shelter-Team im Libanon durch eins unserer Projekte, das vom Lebanon Humanitarian Fund finanziert wird, Unterstützung erhalten. Dadurch konnte sie die Miete sechs Monate lang bezahlen. Durch die finanzielle Hilfe hatte die Familie Geld für andere Ausgaben wie Lebensmittel, die angesichts einer der höchsten Inflationsraten der Welt kaum noch bezahlbar sind.

„Die Mietvereinbarung mit der Organisation [NRC] lief im Mai aus. Nun will der Vermieter die Miete erhöhen und akzeptiert nur noch Dollar. Er verlangt statt 150 nun 250 Dollar. Wenn wir das nicht bezahlen können, müssen wir ausziehen. Er gewährt uns eine Frist von zwei Monaten, um eine neue Wohnung zu finden. Aber wo sollen wir hin?“

Nadine sagt, dass die von NRC geleistete finanzielle Unterstützung sechs Monate lang sehr geholfen habe, aber angesichts der Situation wahrscheinlich nicht ausreiche. Sie ist sich jedoch der schwierigen Lage bewusst, in der andere sich befinden. „Die Übernahme der Miete für sechs Monate ist nicht genug. Viele Menschen brauchen weiterhin Hilfe. Ich habe das Glück, ein Dach über dem Kopf zu haben, das haben längst nicht alle. Ich könnte eines Tages auch obdachlos sein.“

Das Leben ist so teuer

„Wir leben von Lebensmittelspenden und haben uns daran gewöhnt. Wir können uns kein Gemüse leisten. Tomaten sind zu teuer für uns. Manchmal bekommen wir während des Schulhalbjahrs welche, damit meine Kinder ein einfaches Sandwich mit zur Schule nehmen können. So sieht die Lage für alle aus.“

Der Wirtschaftskollaps im Libanon wird als eine der schwersten Wirtschaftskrisen des letzten Jahrhunderts bezeichnet, ausgelöst durch eine explodierende Inflation infolge der „Dollarkrise“. Geschäfte geben die Preise für lebenswichtige Güter in Dollar an, während die Angestellten ihren Lohn immer noch in libanesischen Pfund ausgezahlt bekommen, was es unmöglich macht, mit den Wechselkursen Schritt zu halten

Der Stadtteil Ain El Remmaneh in Beirut. Schätzungsweise 3,9 Millionen Menschen im Libanon benötigen eine Form von humanitärer Hilfe. Foto: Sherbel Dissi/ NRC Flüchtlingshilfe

Nadine sagt, die Mangelernährung habe eine schwere Anämie bei ihr ausgelöst. Eine Behandlung kann sie sich nicht leisten. „Ich brauche eine Bluttransfusion. Ich habe keine Krankenversicherung und die Behandlung im Krankenhaus würde mindestens 1000 Dollar kosten. Das kommt von der Mangelernährung, da wir uns nicht gesund ernähren können. Ich bin schon mehrere Male ohnmächtig geworden.“

Selbst Medikamente sind entweder sehr teuer oder einfach nicht zu bekommen. „Wir gehen nicht in die Apotheke“, erklärt Nadine. Mit „wir“ meint sie auch ihren Ehemann, dessen Herzprobleme und Bluthochdruck eigentlich ständig behandelt werden müssten.

Hoffnung gibt den Menschen Halt

„Wegen der Leute, die dieses Land regieren, kann ich meine Kinder nicht versorgen. Die Schuld trifft die politischen Parteien und die Korruption im Land“, sagt Nadine frustriert, als ihre jüngere Tochter Joya um eine Tüte Chips bittet, die sie sich nicht leisten kann.

„Ich hoffe, dass die politische Lage sich bessert. Wenn es so weitergeht wie bisher, wird die nächste Generation es schwer haben, sich anzupassen. Es wird nichts mehr für sie übrig sein.“

Nadine steht auf dem Balkon ihrer Wohnung im Stadtteil Ain El Remmaneh. Nadine träumt von einer besseren Zukunft für ihre Kinder, in der sie nicht dieselben Schwierigkeiten haben werden wie sie selbst. Foto: Sherbel Dissi/ NRC Flüchtlingshilfe

Trotz all der Schwierigkeiten sind Nadine und ihr Mann entschlossen, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken – für ihre Kinder. Bildung hat für sie oberste Priorität. Nadine möchte nicht riskieren, ihre Kinder in öffentlichen Schulen anzumelden, da hier die häufigen Streiks des Lehrpersonals die Qualität der Ausbildung beeinträchtigen.

„Die Schule war in den letzten zwei Jahren sehr entgegenkommend und akzeptierte auch verspätete Zahlungen. Seit dem letzten Jahr verlangen sie die Gebühren jedoch in US-Dollar. Sie brauchen 1.200 Dollar für das nächste Halbjahr und ich schulde der Schule noch ungefähr 4,5 Millionen libanesische Pfund von früheren Halbjahren“, erklärt Nadine. Sie hofft, dass die Schule auch dieses Jahr flexibel sein wird. Zudem muss auch noch die Fahrt zur Schule bezahlt werden.

„Das Wichtigste für mich ist, dass die Kinder gut ausgebildet werden. Wir tun alles, damit unsere Kinder lernen können. Es wird ihr Leben retten.“