Die Flucht eines 16-Jährigen vor dem IS

Im Jahr 2013 floh der zu diesem Zeitpunkt 16-jährige Mosab vor dem IS in Syrien. Er machte sich allein auf den Weg nach Norwegen. Heute lebt er in Oslo. Er spricht Norwegisch, geht zur Schule, hat zwei Jobs – einen bezahlten und einen ehrenamtlichen – und er hat Klavierspielen gelernt. Nachts im Traum jedoch wird er von denen besucht, die er im Krieg verloren hat.

Einer derjenigen, die er in diesen Albträumen sieht, ist sein Freund Ahmad. Er wurde durch einen Luftangriff getötet. Mosab kam den vielen Verletzten zu Hilfe und fand dabei seinen Freund tot auf.

So beschreibt er den unheimlichen Traum:

„Mein Freund ist sehr, sehr klein. Er hat Flügel und fliegt um mich herum. Sein Mund ist offen und voller Blut.“

In seinen Träumen erlebt Mosab den Krieg noch einmal. Viele von denen, die ihn in seinem Träumen besucht haben, waren erwachsen, als sie starben, aber in seinen Träumen werden sie wieder Kinder. Sie sind sehr klein. Sie fliegen oder kriechen zum Fenster hinein und hinaus.

„Es ist angsteinflößend. Wenn ich aufwache, bin ich angespannt. Ich fürchte mich davor, in der nächsten Nacht wieder dasselbe zu träumen.“

Er fügt hinzu:

„In letzter Zeit träume ich auch, dass die Menschen in Norwegen mich hängen lassen. So wie ich es erlebt habe, als ich aus Syrien floh.“

Können wir das überhaupt begreifen?

Wer Mosab, 22, kennt, würde ihn als sanften, sozialen und netten Kerl beschreiben. Er hat Sinn für Humor, ist intelligent und musikalisch. Er ist offen und neugierig auf die Welt. Aber er kann auch ein wenig zurückhaltend sein. Nachdenklich.

Was macht das mit einem, wenn man mit ansehen muss, wie der eigene Großvater vom IS hingerichtet wird? Wie ist das, wenn der 14-jährige Bruder auf dem Heimweg von der Schule vom IS entführt und ermordet wird? Wenn 20 männliche Verwandte getötet werden? Wenn man fürs Rauchen ausgepeitscht wird? Oder wenn man am Körper große Narben von Bombensplittern hat?

Und: Können wir jemals begreifen, was es bedeutet, eine Mutter, die man mehr als alles andere liebt, und seine Geschwister zu verlassen – mit 16 Jahren? Wie ist es, zur Flucht in eine fremde Welt gezwungen zu sein – ganz allein? Wie ist es, sich in eisiger Kälte quer durch Europa zu schleppen? Mit nichts als einem Paar Schuhe, einer Hose, einem Pullover, einem kleinen Rucksack und einem Handy – und von zwei Snickers am Tag zu leben?

Mosab arbeitet ehrenamtlich, um Menschen in Norwegen zu helfen. Diese Einladung für Mosab stammt aus dem Königspalast. Foto: Beate Simarud

Der Arabische Frühling

Im Jahr 2010 kam es in mehreren Ländern Nordafrikas zu einem massiven Aufstand gegen die autoritären Machthaber. Im folgenden Jahr erreichten die Proteste den Nahen Osten. Die Aufstände wurden Arabischer Frühling genannt und stellten die autoritären Regime mit Forderungen nach demokratischen Rechten infrage. In Syrien wurde aus den Demonstrationen letztendlich ein Bürgerkrieg.

Mosabs Heimatstadt Manbidsch liegt im Norden Syriens, nicht weit von der türkischen Grenze entfernt.

„Bei uns zu Hause lief ständig der Fernseher. Wir sahen nur die Nachrichten und verfolgten die Politik von Kindheit an. Uns wurde klar, dass der Arabische Frühling auch nach Syrien kommen würde.“

Der Aufstand kam im Jahr 2011 nach Manbidsch. Seitdem wird Mosabs Heimatstadt von drei verschiedenen Regimen regiert: syrischen Oppositionsgruppen, dem IS und kurdischen Gruppen.

 

Bei Mosab zu Hause

Schneeflocken fallen leise vom Himmel und legen sich als dicke weiße Decke auf die Fichten und den leeren Fußballplatz vor Mosabs Fenster. Er geht hinaus auf die Veranda, um eine Zigarette zu rauchen.

Die Wand in seiner Wohnung ist mit zwei Glockenzügen dekoriert. Ihm war zu Ohren gekommen, dass Glockenzüge typisch norwegisch seien, und darum hat er sie an der Wand hängen. Er will sich an sein neues Heimatland anpassen.

An der Wand hängt auch ein gerahmtes Stück Papier. Darauf stehen Grüße von seinen Freunden, die er im Jugendcamp einer norwegischen Stiftung namens The Change Factory gefunden hat:

„Danke für die tolle Zeit, du bist wirklich cool und kannst so gut Klavier spielen.“ – „Du bist ein echt cooler Typ. Es war super, mit dir abzuhängen.“ – „Du bist ein bezaubernder Mensch. Du bist wahnsinnig weise und warmherzig. Mit deiner Energie und deiner Güte gibst du allen so viel. Danke für alles!“

Im Wohnzimmer stehen ein Esstisch mit vier Stühlen, ein Sofa und ein Couchtisch. Am Fenster steht ein Keyboard. In der Küche hängt Wäsche zum Trocknen. Im Schlafzimmer steht ein Bett. Alles stammt aus einem Second Hand-Shop:

„Ich habe die Möbel bekommen, weil ich in dem Laden ausgeholfen habe“, erklärt er.

Hast du irgendetwas aus Syrien?

„Nein. Nichts.“

„Ich esse sehr gesund. Als ich nach Norwegen kam, konnte ich noch nicht einmal ein Ei kochen. Ich war der Jüngste am Asyl-Aufnahmezentrum und ich war ständig in der Küche und sah den Frauen beim Kochen zu.“ Foto: Beate Simarud/NRC

„Auf mich allein gestellt”

„Meine Kindheit war die beste Zeit meines Lebens. Aber natürlich war nicht alles immer nur toll. Kennen Sie das Gefühl, man wäre nichts wert? Ich habe mich sehr oft so gefühlt. Ich denke, das kam, weil ich aus einer armen Familie stammte. Weil wir nicht alles hatten, was wir brauchten, dachten manche Leute, sie wären irgendwie besser als wir. Es ist schwer, wenn die anderen Kinder alles haben und du nicht.“

Er steht von seinem Stuhl auf, geht in die Küche und schneidet etwas Brot. Er kommt zurück und stellt eine Platte mit Brot und drei kleine Schälchen mit verschiedenen Dips auf den kleinen Tisch. Einen der Dips hat er selbst gemacht:

„Ich esse sehr gesund. Als ich nach Norwegen kam, konnte ich noch nicht einmal ein Ei kochen. Ich war der Jüngste am Asyl-Aufnahmezentrum und ich war ständig in der Küche und sah den Frauen beim Kochen zu.“

Haben die Frauen sich um dich gekümmert?

„Wenn ich um Hilfe gebeten habe. Aber ich wollte auch niemandem auf die Nerven gehen. Ich war auf mich allein gestellt.“

 

Mama

Mosab stammt aus einer arabischen Familie. Sein Vater war Ingenieur und Künstler. Seine Mutter war Hausfrau. Seit ihrer Scheidung lebt sein Vater in den USA.

Mosab hat eine große Familie. Er und sein Zwillingsbruder sind die Ältesten. Er hat noch zwei jüngere Brüder – von denen nur noch einer am Leben ist – und zwei Schwestern.

„Mein Zwillingsbruder und ich gehörten zu den Besten in der Schule. Besonders mochte ich Mathe und Philosophie. Philosophie, weil man da lernt, dass es viele Arten gibt zu denken. Das ist sehr nützlich. Ich studiere die Menschen, mit denen ich spreche“, sagt er, und erzählt, dass ihm auch seine Teilzeitjobs nach der Schule Spaß gemacht hätten. Er verkaufte Brot und Zigaretten oder arbeitete auf Baustellen. Das Geld gab er seiner Mutter.

Mosab hat in Syrien die weiterführende Schule verpasst, aber das holt er jetzt in Norwegen nach. Am Wochenende arbeitet er in einer Schokoladenfabrik in Gjøvik, ein paar Stunden von Oslo entfernt. Die Hälfte seines Gehalts schickt er seiner Mutter Mona.

Wie würdest du sie beschreiben?

„Meine Mutter…“

Er beginnt zu weinen. Nach einer Weile sagt er:

„Sie ist alles.“

Sprichst du oft mit ihr?

„Ungefähr alle drei Tage über WhatsApp, wenn sie eine Internetverbindung haben. Meine Mutter hat wunderschöne braune Augen. Ihr Haar ist schwarz. Sie ist nicht sehr groß, nicht dick und nicht dünn, irgendwas dazwischen. Wenn jemand etwas braucht, gibt sie alles weg, was sie hat. Meine Mutter ist alles für mich.“

In der Türkei hörte Mosab, dass Schlepper Geflüchtete töten und ihre Organe verkaufen. Er rief seine Mutter an: „Wenn du nichts mehr von mir hörst, bin ich tot.“ Foto: Beate Simarud/NRC

Als der IS kam

Plötzlich waren sie da – innerhalb weniger Stunden.

„Wir wussten vorher nichts. Wir gingen abends ins Bett und am nächsten Tag waren sie da. Plötzlich liefen schwarz gekleidete Männer auf unseren Straßen herum. Zuerst waren es nicht so viele und sie versuchten den Eindruck zu erwecken, sie seien nett. Sie gaben zum Beispiel den Armen Geld. Aber wir waren ja nicht dumm. Wir wussten, dass sie gefährlich waren“, sagt Mosab.

Seine Familie verfolgte die Nachrichten und wusste gut über die Situation im Irak Bescheid. Sie wussten von Al-Quaida und dem IS – dass sie im Grunde gleich waren. Dass beide gefährlich waren.

Hattest du Angst?

„Nein“, erwidert er und fährt fort:

„Eines Tages erwischten sie mich. Ich fuhr auf meinem Motorrad herum und rauchte eine Zigarette. Plötzlich war ein Auto neben mir – ich wusste nicht, dass sie es waren. Das Auto begann mich zu verfolgen und ich sah im Rückspiegel, wer es war. Also warf ich unauffällig meine Zigarette weg und hielt an.

Der IS-Mann sagte: ‚Steig ab. Wo ist deine Zigarette?’ Ich sagte, ich hätte keine Zigaretten. Sie durchsuchten mich, fanden aber nichts. Aber sie rochen den Rauch an mir. Also nahmen sie mich mit in ein improvisiertes Gefängnis, wo schon viele andere Gefangene waren.“

Dort wurde er zu 30 Peitschenhieben verurteilt.

„Ich hatte schon einmal Prügel bekommen und es war mir wirklich egal. Es würde weh tun, aber ich wusste, ich würde nicht sterben“, sagt er.

Glücklicherweise durfte er während des Auspeitschens seine Kleider anbehalten:

„Danach musste ich Hadithe lesen [Geschichten über das Leben und die Lehren des Propheten Mohammed, die als Beispiele dafür dienen, was richtig und eine gute Lebensweise ist, ed.].“

Am folgenden Tag durfte er gehen. Mosab beschloss, sich zurückzuziehen.

 

Der größte Verlust

Mosabs jüngerer Bruder Sahib war in Aleppo, um dort eine Prüfung abzulegen. Auf dem Heimweg wurde er zusammen mit über 90 weiteren Schülern vom IS als Geiseln genommen. Einige der Schüler waren Kurden. Mosab glaubt, dass eine Vergeltungsaktion nach dem Kampf mit kurdischen Milizen gewesen sei.

„Manche der Schüler verschwanden. Manche wurden getötet. Manche kamen zu ihren Familien zurück“, sagt er.

In der Mitte der Stadt gab es einen Platz, wo der IS Menschen hinrichtete. Wenn viele Menschen dort versammelt waren, wusste man sofort, dass jemand sterben würde.

„Jemand sagte, dass Sahib dort getötet worden sei. Seine Leiche wurde nie zu uns zurückgebracht. Mein Bruder und ich standen uns sehr nahe, wir haben alles geteilt. Ihn zu verlieren, war sehr schlimm.“

Nach diesem Vorfall kam Mosab ins Grübeln: „Könnte der IS auch mich holen kommen?“

Dann töteten sie seinen Großvater:

„Großvater wurde zum Hinrichtungsplatz geschleppt. Ich glaube, sie haben ihn betäubt oder so – er ging, als sei er betrunken. Sie legten seinen Kopf auf den Klotz. Ein großer Mann mit einer Axt schlug ihm den Kopf ab. Ich habe es mit angesehen.“

Mosab breitet in einer Geste der Verzweiflung seine Arme aus:

„Aber es war nicht nur Großvater, der auf diese Weise getötet wurde. Auch viele meiner Onkel und zwei Cousins.“

Er weinte nicht, als er seinen Großvater sterben sah:

„Der wichtigste Mensch für mich war Sahib. Ihn zu verlieren, was das Schlimmste, was passieren konnte. Mein Herz war danach irgendwie gebrochen. Ich weine nicht mehr, wenn jemand stirbt. Ich bin traurig, aber mehr auch nicht. Die einzige Person, wegen der ich jemals weine, ist meine Mutter. Sie ist die Einzige.“

“Wenn ich aufwache, bin ich angespannt. Ich fürchte mich davor, in der nächsten Nacht wieder dasselbe zu träumen.“
Mosab

Flucht aus Syrien

Als Mosab sein Heimatland im Jahr 2013 verließ, wusste er, dass er mit Syrien fertig war.

Hattest du Geld?

„Kein Geld.“

Was dann folgte, war fast ein Jahr im Elend. Er lebte im Müll auf der Straße. Er wurde betrogen und ausgeraubt. Er lebte davon, leere Flaschen zu sammeln. Schließlich bekam er ein paar Jobs. Er arbeitete in einem türkischen Bad und in einem Laden. Er arbeitete als Maurer, Maler und Obstpflücker. In sechs Monaten lernte er fließend Türkisch.

In der Stadt Adana erfuhr er, dass viele Menschen aus Syrien nach Deutschland gingen. Schließlich reifte in ihm die Idee, dass er in Europa vielleicht die besten Chancen auf ein gutes Leben hätte.

Die türkische Stadt Edirne liegt an der Grenze zwischen Bulgarien und Griechenland. Dort arbeitete Mosab eine Zeit lang als Kellner in einem Restaurant.

„Ich lernte einen Mann kennen, der Flüchtlinge aus der Türkei nach Albanien und noch weiter brachte. Ich sagte ihm, dass ich das auch wolle.“

Eines Nachts bekam er seine Chance. Mosab befand sich in einer Gruppe von 20 Menschen – hauptsächlich Frauen und Kinder. Ihr Ziel war Albanien. Aber nachdem sie anderthalb Stunden lang durch den Wald gelaufen waren, wurden sie von brutalen albanischen Soldaten aufgegriffen und in die Türkei zurückgebracht.“

Wie viel hast du dem Schlepper bezahlt?

„Nichts. Bevor ich ihn kennenlernte, dachte ich, er sei arm, also gab ich ihm umsonst etwas zu essen aus dem Restaurant. Er wollte sich revanchieren.“

Mosab auf der griechischen Insel Lesbos, direkt, nachdem er mit anderen Flüchtenden die gefährliche Überfahrt mit dem Boot überlebt hat. Foto: Beate Simarud/NRC

Große Verantwortung

In der türkischen Stadt Izmir lernte Mosab einen Mann kennen, der nach Europa gehen wollte.

„Er schlug mir vor, mitzukommen. Als ich sagte, dass ich kein Geld hätte, sagte er: ‚Wenn du das Boot fährst, musst du nicht bezahlen.’ Er erklärte mir, dass die Schlepper nicht mit aufs Boot kämen.

Mosab beschloss, es noch einmal zu versuchen. Eines Nachts wurde er mit etwa 30 weiteren Menschen zu einem verlassenen Ort gebracht.

„Aber dann bekam ich Angst. In Edirne hörte ich einmal jemanden sagen, dass Schlepper Menschen töten und ihre Organe verkaufen. Ich rief meine Mutter an und sagte ihr, wenn sie nichts von mir hören würde, wäre ich tot. Ich sagte: ‚Ich liebe dich, bete für mich.’ Sie weinte.“

Die Männer hatten Schusswaffen. Die Flüchtenden wurden in Autos gesetzt. Sie saßen sehr beengt und fuhren lange Zeit über holprige Straßen, bis sie zu einem Ort mit Bergen kamen. Unten war das Meer. Glatt wie ein Spiegel.

„Es war ein wunderschöner Ort. Aber die Männer waren gefährlich. Ein Familienvater fing an, mit ihnen zu diskutieren, als er die Boote sah, aber er hielt schließlich den Mund, um nicht erschossen zu werden. Wenn jemand protestierte, benutzten sie ihre Waffen. Da wurde uns klar, dass es keinen Weg zurück gab. Entweder ging man weiter oder wurde getötet.“

Da waren zwei Plastikboote.

„Ich dachte, es wären sieben Leute in dem Boot, das ich steuern sollte. Plötzlich waren in jedem Boot 30 bis 40.“

Mosab hatte nie zuvor ein Boot gefahren. Es stellte sich jedoch als recht einfach heraus – er musste nur einen Hebel drücken. Er übte ein wenig ohne Passagiere.

„Ich war jedoch sehr angespannt. Weil ich so viele Passagieren haben würde. Viele Kinder. Familien. Leben, für die ich verantwortlich war. Ich versuchte, mich selbst zu beruhigen: ‚Wir leben nur einmal, ich werde diese Gelegenheit nicht versäumen. Ich habe keine Wahl. Es gibt kein Zurück. Aber ich werde mein Bestes geben und wir werden es schaffen.’“

Gegen jede Chance

Sie hatten gesagt, die Bootsfahrt von Izmir würde 50 Minuten dauern. Mosab betete die ganze Zeit über zu Gott.

„Das Boot war so voller Menschen, dass sie fast aufeinander saßen. Der Motor war nicht stark genug. Nach zehn Minuten ging er aus. Alle mussten still sitzen, während ich versuchte, ihn wieder in Gang zu bekommen. Ich schaffte es und wir fuhren weiter.

Mitten auf dem Meer, an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei, blieb er stehen. Dann sah ich ein türkisches Militärboot auf uns zukommen. Die Leute gerieten in Panik, weinten und schrien. Ich musste nur den Motor zum Laufen bekommen. Ein Mann half mir.“

Die See wurde immer rauer. Ein Mann zeigte Mosab, wie er das Boot durch die Wellen steuern musste. Mosab versuchte, die Passagiere zu beruhigen, indem er ihnen ständig sagte, sie sollten an etwas anderes als an das Meer denken. Er wollte, dass sie still saßen.

Die türkische Polizei kam immer näher. Als sie nur noch 500-600 Meter entfernt waren, sprang der Motor plötzlich wieder an.

Sie schafften es auf die griechische Seite.

„Die Menschen begannen zu singen und vor Freude zu schreien. Diejenigen, die ein GPS hatten, riefen das griechische Militär an, um unsere Ankunft zu melden. Ich war so erleichtert. Weil ich eine so große Verantwortung hatte – das waren Menschen! 35 Menschen! Ich hatte sie quasi gerettet. Obwohl ich ja nur ein Teenager war.“

Diese Schuhe und Kleidungsstücke waren alles, was er hatte, als er sich in der eisigen Kälte quer durch Europa bis nach Norwegen durchschlug. Foto: Beate Simarud/NRC

Zwei Schokoriegel am Tag

Griechenland, Insel Lesbos. Da waren viele andere Geflüchtete. Zelte und Warteschlangen.

Einer der griechischen Soldaten war türkischer Herkunft. Er fragte: „Sprichst du Türkisch?“

„Ich konnte es. Ich spreche gern mit Menschen. Und besonders jetzt, nach allem, was ich erlebt hatte“, sagt Mosab und lächelt.

Der Soldat half ihm dabei, das Dokument zu bekommen, dass er brauchte, um aus Griechenland ausreisen zu können. Alles geschah sehr schnell. Nach nur ein paar Stunden saß Mosab auf einer Fähre nach Athen. Von dort aus sollte er einen Bus nach Mazedonien nehmen. Dann würde er laufen müssen. Sein Ziel war Deutschland.

Er wanderte in einer endlosen Reihe von Menschen.

„Ich hatte einen kleinen Beutel mit Snickers. Ich lebte von zwei Stück am Tag. Ich hatte nichts als die Kleider, die ich trug. Ich trug immer noch die Schuhe, die ich in einem Second Hand-Laden in Syrien gekauft hatte.“

Nachts schlief er nur so viel wie unbedingt nötig, drei bis vier Stunden.

„Am Schlimmsten war es in Slowenien. Es war so kalt. Ich sah mehrere Kinder erfrieren. Es war furchtbar. Die armen Menschen. In ihrer Verzweiflung verbrannten sie alles, was sie noch hatten, um sich ein kleines bisschen aufzuwärmen – sogar ihre Handys. Ich dachte, ich würde in Slowenien sterben. Ich trug nur eine Hose und einen dünnen Pullover. Ich hatte auch mehrere Tage nichts mehr gegessen. Von den Slowenen bekamen wir keine Hilfe. Absolut keine.“

In Serbien ließen die Menschen massenhaft Schweine vor den Geflüchteten frei. Sie wussten, dass es Muslime waren. Sie wollten die Geflüchteten aufhalten.

„Aber es kümmerte mich nicht, ich ging einfach weiter“, sagt Mosab.

Durch Europa

Er ging zu Fuß durch Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich und kam schließlich nach Deutschland – genauer gesagt nach München.

„Ich glaube, es dauerte ungefähr 18 Tage. Ich weiß es nicht mehr genau. Man hat keine Zeit, um darüber nachzudenken, wie viele Tage oder Stunden es dauert. Man geht einfach weiter.

Woran ich dachte, war meine Familie. Ich dachte an den Tag, an dem ich zu Hause anrufen und sagen würde, dass es mir gut geht. Von Deutschland aus schickte ich meiner Mutter eine Nachricht. Sie war so glücklich. Ich schrieb ihr, wo ich war, dass es mir gut gehe und dass ich in Sicherheit sei.“

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich bekamen die Geflüchteten viel Unterstützung: Essen, Kleidung, Duschen und Plätze zum Schlafen.

„Es war, wie aus der Hölle ins Paradies zu kommen“, sagt Mosab.

 

„Schönen Tag noch!“

In Berlin traf er einen Kurden, der ihm sagte, es wäre am besten, nach Norwegen zu gehen.

„Ich fragte: ‚Wo liegt Norwegen? Zeig es mir.’ Und er zeigte mir Norwegen auf der Karte. Dann fiel mir eine Begebenheit aus der sechsten Klasse wieder ein: Ich blätterte durch einen Atlas. Zu dem Zeitpunkt war alles gerade ein bisschen schwierig, und ich sagte: ‚In dieses Land da werde ich reisen.’“ Sein Zeigefinger war zufällig in Norwegen gelandet.

Der Mann gab ihm Geld für eine Überfahrt von Deutschland nach Schweden. Mosab wollte mit dem Bus weiter nach Malmö fahren. Zuerst musste er jedoch mit dem Bus nach Travemünde, um am Hafen eine Fahrkarte für das Schiff zu kaufen.

„An der Kasse wollten sie meinen Ausweis sehen. Ich gab dem Mann am Schalter meinen syrischen Pass. Er lächelte und lachte und machte nichts mit dem Pass. Er gab ihn mir zusammen mit der Fahrkarte zurück. Ich glaube, er hat mir geholfen. Weil alle anderen einen Stempel in ihren Pass bekamen. Er sagte nur: ‚Schönen Tag noch.’

Es war eine schöne Reise auf einem so großen Schiff.

Sie wollten mich in Schweden festhalten, aber ich hatte mich für Norwegen entschieden. Da war Polizei überall um uns herum. Von allen wurden Fingerabdrücke genommen. Ich war klein und es war leicht für mich zu entkommen.“

Dann traf Mosab einen Mann, der Arabisch sprach:

„Ich sagte ihm, ich müsse vor der Polizei fliehen, weil ich nach Norwegen wolle. Ich sagte: ‚Bitte helfen Sie mir.’ Er sagte, ich solle in Schweden bleiben und dass es ein gutes Land sei. Aber ich sagte: ‚Nein, ich gehe nach Norwegen.’

Er kaufte mir eine Fahrkarte für den Bus. Er sagte, die Busfahrt würde drei bis vier Stunden dauern. Dann wäre ich in Norwegen. Er erklärte mir, wenn die Polizei in den Bus komme, sei man da.

Ich glaube, ich war in dem Bus der einzige Ausländer.“

Nach ein paar Stunden hielten sie an und die norwegische Polizei kam in den Bus. Mosab stand auf. Er schwenkte seine dünnen Arme und rief so laut er konnte: „Syrer, Syrer, Syrer.“
Eine Polizistin kam zu ihm und umarmte ihn.

Eins der ersten Dinge, die er in Norwegen tat, war, seine Schuhe dem Roten Kreuz zu spenden.

Foto: Beate Simarud/NRC

NRC Flüchtlingshilfe und psychische Gesundheit

Eins unserer wichtigsten Anliegen ist es sicherzustellen, dass Kinder und junge Menschen auch in Krisenzeiten weiterhin lernen. In der Schule und bei Berufsbildungsmaßnahmen bekommen Kinder und junge Menschen ein wenig normales Leben und Stabilität. Das gibt ihnen die Hoffnung und den Glauben an eine Zukunft zurück.

NRC Flüchtlingshilfe ist in 32 anderen Ländern aktiv. Wir bauen Schulen und Unterrichtsräume, schulen Lehrkräfte, stellen Lehrmaterial zur Verfügung und – nicht zuletzt – investieren wir in gute Lehrkräfte, die den Kindern bei der Bewältigung ihrer Traumata helfen können. In den kommenden Jahren wollen wir uns noch mehr auf junge Geflüchtete konzentrieren, die mit Traumata zu kämpfen haben – sowohl in Ländern, in denen Kriege und Konflikte herrschen als auch in Nachbarländern, in denen Geflüchtete Schutz gesucht haben.

Mehr über unsere Arbeit mit Traumata lesen Sie hier. (englisch)

 

Manbidsch heute

Mosab’s Heimatstadt Manbidsch liegt im Norden Syrien, nur ein paar Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Kurdische Milizen sind in der Region, seit die Stadt im Jahr 2016 vom IS eingenommen wurde. Die Vereinigten Staaten arbeiteten mit den Kurden zusammen, um den IS zu verdrängen.

Die Türkei betrachtet die kurdischen Milizen als Terrororganisationen. Nachdem US-Präsident Trump beschlossen hatte, alle US-Truppen aus Syrien abzuziehen, haben die Kurden den syrischen Präsidenten Bashar-al-Assad, der mit den Russen verbündet ist, um Unterstützung bei der Abwehr einer möglichen türkischen Invasion gebeten. Derzeit befinden sich vor Manbidsch syrische Regierungssoldaten, russische Soldaten, türkische Soldaten und kurdische Milizen.

Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) wurden am 16. Januar bei einem Selbstmordattentat in Manbidsch 19 Menschen getötet.

Die Lage ist angespannt.

Lesen Sie hier mehr über unsere Arbeit in Syrien.

Gutes-Tun-Webshop