Afghanistan

Familien erfrieren ohne Hilfe in Afghanistan

Unsere Kolleginnen, betroffen vom Verbot der Taliban für weibliche NGO-Mitarbeiter, verzweifeln zutiefst, denn sie können im eiskalten Winter keine weitere lebensrettende Hilfe an gefährdeten Familien leisten.

„Ohne Kolleginnen können wir diese Familien nicht mit lebensrettender Hilfe erreichen“, sagt Gulnoor. Sie ist eine unserer 469 Kolleginnen in Afghanistan, die jetzt mit Berufsverbot belegt sind. „In Teilen unserer Gesellschaft können männliche Arbeitskräfte nur begrenzt Kontakt zu diesen Familien halten.“

Aus Sicherheitsgründen verwenden wir nicht ihren richtigen Namen. Nun ist sie in der Wohnung ihrer Familie in Kabul isoliert und traut sich nicht heraus aus den vier Wänden des Hauses.

Afghanistan ist derzeit mit extremer Kälte konfrontiert. Die Regierung des Landes hat bestätigt, dass mehr als 120 Menschen aufgrund des kalten Wetters ihr Leben verloren haben. In den kältesten Gebieten wurden Temperaturen bis zu minus 33 Grad Celsius gemessen und bis zu 30 Zentimeter Schnee in den Bergregionen.

Am 24. Dezember 2022 führten die Taliban ein Verbot für weibliche Angestellte internationaler Hilfsorganisationen ein. NRC Flüchtlingshilfe und viele andere Organisationen waren dazu gezwungen, die Arbeit in ganz Afghanistan einzustellen. Dieses Verbot hat besonders verheerende Folgen für Familien, die aus Witwen, Kindern und alleinerziehenden Müttern bestehen. Etwa ein Drittel unserer Angestellten in Afghanistan sind weiblich. NRC befindet sich in ständigem Dialog mit den Behörden des Landes, um das Verbot für weibliche Angestellte aufzuheben. Wir setzen uns auch dafür ein, dass Mädchen nach der sechsten Klasse ihre Ausbildung fortsetzen können und die Möglichkeit zur Weiterbildung haben.

KABUL. Qamar Gul, 40 (links), lebt mit ihren beiden Kindern in Charqala-e Waziraabad, einer der vielen informellen Siedlungen für Binnenvertriebene im Lager Kabul. Sie hat eine 13-jährige Tochter (rechts) und einen 15-jährigen Sohn. Ihr Mann ist tot, und die Familie floh Anfang 2020 wegen eines Konflikts in der Region aus Kunduz. Letztes Jahr erhielten Qamar Gul und ihre Kinder ein Winterpaket von NRC. Dies beinhaltete unter anderem auch die Schals, die sie und ihre Tochter tragen. Dieses Foto wurde im Januar 2022 aufgenommen. Foto: Christian Jepsen/NRC Flüchtlingshilfe

Sie erhalten keine lebenswichtige Hilfe

NRC war gerade dabei, ein großes Winterhilfsprogramm abzuschließen, als das Verbot unsere Arbeit stoppte. Mehr als 3.700 Familien hatten bis dann finanzielle Unterstützung erhalten, um Feuerholz, Decken, warme Kleidung und andere Dinge des täglichen Lebens zu beschaffen, damit sie den Winter überstehen konnten. Unter den Binnenvertriebenen von Kabul warteten allerdings immer noch 2.500 extrem gefährdete Familien auf Hilfe.

„Wir hatten bereits 2.500 der am stärksten gefährdeten Familien identifiziert, die in Zelten und einfachen Unterständen in den vielen informellen Siedlungen in der Hauptstadt Kabul leben“, sagt Gulnoor. „Viele der Familien wurden aufgrund von Dürre und den jahrelangen Kriegen und Konflikten vertrieben. Dies sind einige der am stärksten gefährdeten Familien, von denen viele nur aus Frauen und Kindern bestehen.“

Wöchentlich erhalten unsere Kolleg*innen in Kabul besorgte Nachrichten von verzweifelten Gemeindevorstehern, die fragen, wann wir die Hilfsarbeit wieder aufnehmen.

„Es ist sowohl deprimierend als auch frustrierend zu wissen, dass wir diesen Menschen hätten helfen können, wenn die Taliban uns arbeiten lassen würden. Die Nachrichten von Familien mit erfrierenden Kindern sind herzzerreißend, und ich bange um das Leben und die Gesundheit aller derer, die jetzt keine Hilfe bekommen“, sagt Gulnoor.

Lesen Sie hier mehr über die Suspendierung von Mitarbeiterinnen in Hilfsorganisationen.

KABUL. Najiba (8) lebt zusammen mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern in einer der vielen informellen Siedlungen für intern Vertriebene in Kabul. Die Familie kämpft, um genug Geld zum Überleben zu verdienen. Ihr ältester Bruder sammelt und verkauft Müll zum Recycling. Keines der Kinder besucht eine Schule. Die Familie hat im vergangenen Jahr Winterhilfe von NRC erhalten. Dieses Foto wurde im Januar 2022 aufgenommen. Foto: Christian Jepsen/NRC Flüchtlingshilfe

Zum Betteln Auf der Straße gezwungen

Vor dem Verbot waren bereits zwei von drei Afghan*innen auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Rund 20 Millionen waren von potenziell lebensbedrohlicher Ernährungssicherung betroffen.

Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und vertriebene Familien kämpfen besonders hart, um bezahlte Arbeit zu finden. Für Witwen und alleinerziehende Mütter ist dies zu einer unmöglichen Aufgabe geworden. Gleichzeitig haben die Taliban ein Bettelverbot eingeführt.

„Trotz strenger Bewegungseinschränkungen und des Bettelverbots, bleibt vielen Frauen und Kindern nichts anderes übrig als dennoch auf der Straße zu betteln“, sagt Gulnoor. „Es ist auch kein ungewöhnlicher Anblick auf den Straßen von Kabul, Kinder zu sehen, die Plastik und Pappe sammeln, die sie verkaufen, um ihre Familien mit Essen zu versorgen. Das sind Kinder, die eigentlich in der Schule sein sollten.“

Asal ist eine weitere unserer Kolleginnen. Asal ist nicht ihr richtiger Name. Auch sie verbringt nun ihre Tage in den vier Wänden ihres Zuhauses. Sie ist sowohl frustriert als auch verzweifelt, dass sie den vielen Familien nicht helfen kann, die jetzt zunehmendem Leid ausgesetzt sind und Gefahr laufen, an Krankheiten, Unterernährung und Kälte zu sterben.

„Es ist viele Wochen her, seit ich einige der am stärksten gefährdeten Familien in den informellen Siedlungen von Kabul besucht habe. Als ich das letzte Mal dort war, traf ich unter anderem eine Witwe, die mit ihren drei Töchtern lebte. Der Ehemann war vor fünf Jahren bei einer Bombenexplosion ums Leben gekommen. Es gab keine Männer, die diese Familie vertreten oder versorgen konnten. Sie waren zum Überleben völlig auf Hilfe von außen angewiesen“, sagt Asal, und fragt sich, wie dieser und ähnlichen Familien weitergeholfen werden kann.

Neugeborene im Kreißsaal zurücklassen

Laut Asal werden Familien in solch einer verzweifelten Situation auf verschiedene Überlebensstrategien zurückgreifen.

„Betteln auf der Straße kann eine Notlösung sein. Obwohl [diese Witwe] eine gute Mutter ist, die möchte, dass ihre Töchter sowohl eine Ausbildung als auch einen guten Job bekommen, könnte sie dazu gezwungen sein, eine von ihnen zu verheiraten. Nur so kann diese Tochter, als auch der Rest der Familie überleben.”

Gulnoor erzählt, dass einige verzweifelte Frauen ihre Neugeborenen kurz nach der Geburt im Krankenhaus zurücklassen.

„Nach neun Monaten Schwangerschaft und der Geburt eines gesunden Kindes sind die Mütter gezwungen, eine so herzzerreißende Entscheidung zu treffen. Doch die Familie ist ohne Einkommen. Sie hungern. Ihnen fehlt das Geld für Medikamente. Sie sehen keine Zukunft für ihre Kinder. Weniger Münder füttern zu müssen, wird also Teil der Überlebensstrategie der Familie“, sagt Gulnoor.

Frust und Wut

Unsere Kolleginnen sind frustriert, verzweifelt und wütend darüber, dass die Behörden das Verbot eingeführt haben.

„Es tut uns natürlich leid, weil wir nicht mehr allen Leidenden helfen können“, sagt Gulnoor. „Aber das Verbot beraubt uns Frauen grundlegender Rechte. Uns, mehr als der Hälfte der Bevölkerung, die Teilhabe an der Gesellschaft zu verweigern, weil wir Frauen sind, ist ein grausamer Akt. Wir haben studiert und einen Beruf erlernt, daher ist es besonders bitter zu hören, dass wir in Zukunft zu Hause bleiben müssen.“

In der Vergangenheit haben die Taliban Mädchen verboten, ihre Ausbildung über die sechste Klasse hinaus fortzusetzen.

„Ich habe auch Angst um die Zukunft meiner Tochter“, sagt Gulnoor. „Sie ist jetzt in der vierten Klasse, aber was soll ich ihr sagen, wenn sie nach der Ausbildung über die sechste Klasse hinaus fragt. Wenn sie mir ihre Zukunftsträume mitteilt?“

Unsere Arbeit

NRC startete die ersten Projekte in Afghanistan im Jahr 2003. Seit dem 15. August 2021 hat NRC über 870.000 vertriebene Menschen in 18 Provinzen in Afghanistan unterstützt. Projekte reichen von Notfallmaßnahmen bei Überschwemmungen, Erdbeben und Dürren, Bildung, Unterkunft, Rechtsbeistand, Schutz und genereller Lebensgrundlagen, bis zu Ernährungssicherung sowie Wasser- und Sanitärversorgung. Im Herbst haben wir 3.700 Familien (25.900 Einzelpersonen) geholfen, sich auf den Winter vorzubereiten. Diese lebensrettenden Winterhilfen setzen nun aus.