Das kommende Jahrzehnt der humanitären Hilfe wird vom Kampf um Werte bestimmt

Die 2020er Jahre dürfen nicht das Jahrzehnt der Gleichgültigkeit werden. Wir müssen Menschen, die vor Kriegen und Katastrophen fliehen, besser schützen.

Jan Egeland ist Generalsekretär von NRC Flüchtlingshilfe und ehemaliger UN-Vizegeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten.

Wie viel sich in zehn Jahren verändern kann. 2010 galt als besonders schwieriges Jahr in Bezug auf die weltweiten Hilfsmaßnahmen. Die humanitäre Hilfe stieß bei der Reaktion auf zwei große Katastrophen an ihre Grenzen: das verheerende Erdbeben in Haiti und massive Überschwemmungen in Pakistan. Die Hilfsorganisationen forderten beispiellose 11 Billion US-Dollar (10 Milliarden Euro), um die Menschen in Not auf der ganzen Welt zu unterstützen.

Heute, zehn Jahre später, ist der Betrag zweieinhalb Mal so hoch. Doppelt so viele Menschen sind in Not und brauchen dringend Hilfe. Am Ende eines Jahrzehnts, das Tech-Milliardäre und intelligente Technologie hervorgebracht hat, sind mehr Menschen mittelalterlicher Gewalt ausgesetzt als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.

So sollte es nicht sein. Es gibt heute mehr neue Werkzeuge, Finanzierungsmöglichkeiten und Expertenwissen als jemals zuvor, um Gemeinden in Krisengebieten zur Seite zu stehen. Als UN-Koordinator für Soforthilfe habe ich vor über zehn Jahren eine humanitäre Reform eingeleitet, die die Hilfsorganisationen so organisiert hat, dass sie die Millionen Menschen in Konflikt- und Katastrophengebieten besser unterstützen können. Weniger Menschen müssen vor unseren Augen durch fehlende Lebensmittel, Wasser und Sanitäranlagen sterben. Wir können mehr Kinder in Konfliktgebieten mit Bildung erreichen. Gemeinden, die früher auf sich selbst gestellt waren, haben nun Zugang zu medizinischer Versorgung.

Wir beginnen das neue Jahrzehnt jedoch mit einer düsteren Erkenntnis: Trotz all unserer Ressourcen gelingt es uns immer noch nicht, diejenigen zu schützen, die unseren Schutz am dringendsten brauchen. Eine Essensration oder eine Decke ist für Gemeinden, die bombardiert, belagert und terrorisiert werden, nur ein sehr schwacher Trost. Das Völkerrecht und die humanitären Grundsätze werden angegriffen. Und angesichts der zunehmenden populistischen Welle des Nationalismus werden wir in den kommenden Jahren hart um moralische Werte kämpfen müssen.

Der Kampf um den Schutz der Zivilbevölkerung

Von Syrien bis zur Sahelzone sind wir Zeugen zahlloser Angriffe auf Häuser, Krankenhäuser, Schulen und humanitäre Hilfskräfte. In den 1990er Jahren waren Akte von Brutalität nicht weniger tödlich, aber mehr als zuvor sehen wir, wie globale und regionale Mächte das Feuer noch anheizen, indem sie in grausamen Bürgerkriegen die gegnerischen Seiten unterstützen.

Der Mangel an prinzipienfesten und kohärenten internationalen Maßnahmen für die Menschenrechte schürt zudem ein neues Zeitalter der Straflosigkeit für unvorstellbare Gewalt, von ethnischer Säuberung in Myanmar bis zur Bandengewalt in Zentralamerika.

Die Genfer Konventionen wurden letztes Jahr 70 Jahre alt. Ihre Kriegsregeln sind immer noch genauso aktuell wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber was heute schmerzlich fehlt, sind starke Führungskräfte, die vereint stehen und bereit sind, sie umzusetzen – zu Hause und anderswo, für Verbündete wie für Feinde. Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sollten geschlossen Gerechtigkeit fordern und Täter zur Rechenschaft ziehen, anstatt die Augen vor solchen Gräueltaten zu verschließen.

Der Kampf Nationalismus gegen Solidarität

Im Jahr 2010 wurden rund 43 Millionen Menschen durch Konflikte aus ihrer Heimat vertrieben. Zehn Jahre später sind es weit über 70 Millionen, die durch Gewalt und Verfolgung umbarmherzig zur Flucht gezwungen wurden. Auf der UN-Generalversammlung 2016 verpflichteten sich die Führungskräfte zu einer besseren Verantwortungsteilung in Bezug auf den Schutz und die Unterstützung von Menschen auf der Flucht.

Leider gehen wir mit einem Mosaik von gebrochenen Versprechungen ins neue Jahrzehnt.

Im Dezember haben wir uns vom ersten Globalen Flüchtlingsforum in Genf verabschiedet und uns damit abgefunden, dass die meisten Grenzen für Schutzsuchende fest verschlossen sind. Flüchtlingsquoten werden drastisch reduziert. Einkommensschwache Gastgeberländer erhalten kaum internationale Unterstützung. Die großen Volkswirtschaften Asiens und der Golfregion vermeiden es weiterhin, Flüchtlinge aufzunehmen. Europa und die Vereinigten Staaten setzen ihren Unterbietungswettlauf fort.

Wir können nicht verlangen, dass eine Handvoll armer Länder wie der Libanon und Uganda die Last tragen, schutzsuchende Familien aufzunehmen, während die reichsten und sichersten Länder ihre Grenzen abriegeln und einen bescheidenen Scheck mit der Post schicken.

Politikerinnen und Politiker werden sich weiterhin dem nationalen Populismus beugen, wenn wir die falsche Darstellung der Anti-Einwanderer-Propaganda nicht ablehnen. Die Geflüchteten hängen in der Luft.

Der Kampf um die Erhaltung der humanitären Prinzipien

Die humanitären Prinzipien geraten daher zunehmend unter Druck. Als unabhängige Hilfsorganisationen helfen wir denen, die unsere Hilfe am dringendsten brauchen, wo auch immer sie sind. Aber die Geberländer und Regierungen, die an Konflikten beteiligt sind, verfassen zunehmend „Antiterror“-Gesetze, was es für uns schwieriger macht, der Zivilbevölkerung zu helfen, die sich in Gebieten aufhalten, in denen gelistete Terroristen operieren.
In den kommenden Jahren werden die Regierungen eine Vielzahl detaillierter Vorschriften, Kommissionen und Kontrollinstanzen einrichten, die uns den Zugang zu Kriegsgebieten erschweren, in denen sich die am stärksten gefährdeten Gemeinden befinden.

Für humanitäre Maßnahmen müssen Ausnahmen von den Antiterror-Gesetzen gemacht werden, da unsere Verhandlungen mit den De-facto-Behörden sonst kriminalisiert werden, Hilfe verzögert wird, und unschuldige Gemeinden – die Opfer des Terrors – doppelt gestraft werden.

Wir brauchen wieder starke Führungskräfte

Das Bild von morgen mag düster aussehen, aber es muss nicht zwangsläufig Realität werden. Genauso wie weltweit eine Million Schulkinder die Welt aufrütteln, um eine Klimakatastrophe abzuwenden, muss auch die Menschlichkeit energischer verteidigt werden, um Menschen zu helfen, die vor Gewalt und Katastrophen fliehen.

Wir brauchen stärkere moralische Führerinnen und Führer, wenn wir das Leben der Millionen Menschen in den Krisengebieten wirklich verbessern wollen. Die Jugend von heute ist sich unserer zerbrechlichen, vernetzten Welt und der Notwendigkeit von Internationalismus zur Bewältigung der existenziellen Klimabedrohung sehr bewusst. Sie sind lösungsorientierter und weniger nationalistisch und fremdenfeindlich als meine eigene Generation.

Darin liegt die Hoffnung. Mit diesen jungen Menschen auf dem Weg zur Macht könnten die nächsten zehn Jahre eine Wende für den negativen Trend von Isolationismus, Nationalismus und Tribalismus, wie wir sie heute sehen, bedeuten.

Wir dürfen die 2020er Jahre nicht das Jahrzehnt der Gleichgültigkeit werden lassen.