Die vergessene Jugend

Fast 600 Millionen Menschen zwischen 10 und 24 Jahren rund um den Globus sind von Konflikten betroffen. Anfang des Jahres trafen wir sechs junge Menschen, die aus ihrer Heimat in der Demokratischen Republik Kongo fliehen mussten. Hier erzählen sie ihre Geschichten von Chaos, Trennung und Hoffnung.

Ein jugendlicher Flüchtling zu sein ist sehr schwer. Im Chaos der Flucht können junge Menschen von ihren Eltern und Verwandten getrennt werden und plötzlich allein für jüngere Geschwister und andere Familienmitglieder verantwortlich sein.

Von einem Augenblick zum anderen wird aus einer sorgenfreien Kindheit auf einmal große Verantwortung. Ihre eben noch so hoffnungsvolle Zukunft ist plötzlich mit Unsicherheit behaftet und jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben. Diese plötzlichen Veränderungen sorgen für Verwirrung, Traurigkeit und Angst, aber sie haben keine andere Wahl, als die neue Verantwortung, die nun auf ihren Schultern lastet, anzunehmen.

Martin ist 19 Jahre alt und lebt in einem Lager für Vertriebene in Mwaka, am Stadtrand von Kalemie im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Foto: Ingrid Prestetun

Stellen Sie sich vor, Sie wachen mitten in der Nacht von Schreien, Gewalt und Schüssen auf. Jetzt gilt es, keine Zeit zu verlieren. Sie müssen fliehen, so schnell und so weit weg wie möglich. Dies ist für viele Vertriebene Realität. Wenn die Gewalt so plötzlich über einen hereinbricht, bleibt einem keine Zeit für Vorbereitungen.

Keine Zeit, seine Familie zu suchen

Als Martins Dorf angegriffen wurde, rannten alle Dorfbewohner in verschiedene Richtungen davon. Martin und sein Vater rannten in dieselbe Richtung, aber ihre Mutter in die entgegengesetzte. Martin blieb keine Zeit, irgendetwas mitzunehmen.

Nach einem vierstündigen Fußmarsch erreichten Martin und sein Vater das Lager in Mwaka. Am nächsten Tag entschied sein Vater, ins Dorf zurückzugehen, um ein paar Sachen zu holen und die Tiere in Sicherheit zu bringen. Er kehrte nie zurück.

Seine Mutter und seine fünf Geschwister sind am Leben, aber sie mussten in eine andere, weit entfernte Stadt fliehen. Martin kann ihnen nicht dorthin folgen, weil es zu gefährlich und zu weit weg ist. Er leidet unter dem Verlust seines Vaters und seiner Freunde und vermisst seine Mutter und seine Geschwister.

Seit einem Jahr ist er im Flüchtlingslager Mwaka im Osten der Demokratischen Republik Kongo ganz auf sich allein gestellt. Er lebt davon, Feuerholz zu sammeln und für Essen zu verkaufen. Wenn es gut läuft, reicht es für eine Mahlzeit am Tag. An manchen Tagen isst er gar nichts.

Awezaye, 19, steht in der Schlange der Bargeld- und Lebensmittelausgabe. Foto: Ingrid Prestetun

Vier Tage zu Fuß

Vor einem Jahr wachte Awezaye mitten in der Nacht davon auf, dass sie ihre Mutter weinen und „Ich sterbe!“, schreien hörte. Ihr Dorf wurde inmitten von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Gruppen angegriffen.

Awezaye reagierte blitzschnell. Sie schnappte sich ihre kleinen Geschwister und rannte in den Busch. Sie liefen vier Tage lang zu Fuß. Awezayes Eltern und ihre jüngste Schwester, gerade erst 18 Monate alt, flohen in die andere Richtung. Die kleine Schwester starb. Ihre Eltern verschlug es an einen weit entfernten Ort.

Im Flüchtlingslager in Mulgani, wo Awezaye schließlich ankam, waren die Bedingungen sehr schwierig. Sie hatte keinen Zugang zu Lebensmitteln und keine Unterkunft. Obendrein trug sie die Verantwortung für ihre zwei jüngeren Geschwister. NRC Flüchtlingshilfe konnte sie mit einer Unterkunft und Bargeld unterstützen, damit sie etwas zu essen kaufen konnte.

Awezaye vermisst ihre Eltern, aber es tröstet sie zu wissen, dass sie noch am Leben sind. Ihr größter Wunsch ist es, ihre Eltern wiederzusehen, wieder zur Schule zu gehen und das Schneiderhandwerk zu lernen, um einen Arbeitsplatz zu finden.

Masimango ist erst 18 Jahre alt. Er steht sehr unter Druck, weil er für seinen jüngeren Bruder Bone, 8, stark sein muss, trotz der Schwierigkeiten, die ihnen täglich begegnen. Foto: Ingrid Prestetun

Stark für den kleinen Bruder

Masimango, 18, und Bone, 8, sind Brüder und leben im Flüchtlingslager im Tanganyika. Als ihr Dorf vor zwei Jahren angegriffen wurde, wurden ihre Eltern und älteren Geschwister getötet. Die zwei Brüder haben nur noch sich.

Ein jugendlicher Vertriebener ohne Eltern hat es sehr schwer. Für den 18-Jährigen ist es eine schwere Last, allein für seinen jüngeren Bruder verantwortlich zu sein. Er hat das Gefühl, für Bone stark sein zu müssen – trotz der Schwierigkeiten, die ihnen jeden Tag begegnen. Er vermisst seine Familie und sein altes Leben.

Er wünscht sich, dass er und Bone wieder zur Schule gehen können und dass er eines Tages humanitärer Helfer werden kann, um anderen zu helfen, die von Konflikten betroffen sind. Er versucht, optimistisch zu bleiben und sagt, solange er etwas zu essen bekommt, kann er stark genug bleiben, um eine Arbeit zu finden. Es geht jeden Tag nur ums Überleben.

Rachel, 20, und ihre Familie, mussten in der Nacht fliehen, als zwischen bewaffneten Gruppen Kämpfe ausbrachen. Foto: Ingrid Prestetun

Trotz aller Schwierigkeiten träumen vertriebene Jugendliche von einer besseren Zukunft. Dank NRC Flüchtlingshilfe werden manche Träume wahr.

Der Traum von einer besseren Zukunft

Rachel lebt mit ihren Eltern, Geschwistern und ihrer zweijährigen Tochter in der Stadt Kitchanga. Als vertriebene Jugendliche fühlt sie sich jedoch nicht sicher und lebt in ständiger Angst. Außerdem fühlt sie sich als alleinerziehende Mutter ausgegrenzt.

Derzeit besucht sie einen von NRC Flüchtlingshilfe angebotenen Schneiderkurs in Kitchanga, der sechs Monate dauert. Bevor sie mit dem Kurs begann, gab es im Lager nichts für sie zu tun. Jetzt ist sie froh, ihre Zeit sinnvoll nutzen und neue, hilfreiche Fertigkeiten erlernen zu können. Sie näht sehr gern und möchte gern einmal eine eigene Schneiderei eröffnen, damit sie genug Geld verdienen kann, um ihre Tochter zur Schule zu schicken.

Vor zwei Jahren waren Albert, 22, seine Frau und ihre zwei Kinder zur Flucht gezwungen, nachdem eine bewaffnete Gruppe ihr Dorf angegriffen, Menschen erschossen und Häuser niedergebrannt hatte. Foto: Ingrid Prestetun

Hoffnung trotz mangelnder Möglichkeiten

Albert, 22, lebt ebenfalls in Kitchanga, mit seiner Frau, zwei Kindern und seinen Eltern. Da Alberts Eltern schon recht betagt sind, muss er sich um sie genauso wie um seine Frau und seine Kinder kümmern. Er berichtet uns von den Schwierigkeiten, die ihm als vertriebener Jugendlicher begegnen. Es gibt kaum Erwerbsmöglichkeiten und jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben.

Albert besucht einen Mechaniker-Kurs von NRC Flüchtlingshilfe. Er möchte in einer Autowerkstatt arbeiten, um genug Geld für ein Studium an der Universität zu verdienen. Außerdem würde er gern seiner Frau dabei helfen, ein eigenes Unternehmen zu gründen, und hofft, dass sie eines Tages alle in ihr Heimatdorf zurückkehren können.

Justin Aganze works as a food security assistant with NRC for less than a year.  He was attracted to the organization based on his experience living as a displaced youth years ago in Tanganyika and the NGOs that helped his family during that difficult time.  Justin and his family fled their town and walked for days sheltering in forests and churches with very little to eat.

"Death would have been better because we were suffering so much.  It was worse than hell, " he said.

Justin understands the plight of displaced youth living because of that time he spent having to flee and survive in the worst conditions.  He has taken his work even beyond NRC and works in his spare time as a youth mentor.

Between October 25-26, 2018, NRC offered cash assistance to 7,900 people living in the Mwaka Displacement Camp in Tanganyika province giving them the opportunity to buy food, clothing and household items so that they can survive and have some comfort despite their difficult living conditions.


Photo: Ingrid Prestetun/NRC
Justin gehört zum NRC Flüchtlingshilfe-Team für Ernährungssicherheit. Er versteht die Notlage von vertriebenen Jugendlichen, weil er selbst unter schrecklichen Umständen fliehen und überleben musste. Foto: Ingrid Prestetun

Verständnis für den Überlebenskampf

Justin Aganze arbeitet für NRC Flüchtlingshilfe. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen als vertriebener Jugendlicher fühlte er sich von unserer Arbeit angesprochen. Er begreift die Notlage derjenigen, die zur Flucht gezwungen sind, und ihren Überlebenskampf unter den schlimmstmöglichen Umständen.

„Wir haben so sehr gelitten, dass der Tod besser gewesen wäre. Es war schlimmer als die Hölle“, sagt Justin, als er sich an die Zeit erinnert, als er und seine Familie aus ihrer Heimatstadt fliehen und tagelang laufen, in Wäldern und Kirchen Unterschlupf suchen und mit kaum etwas zu essen auskommen mussten.

Genauso wie die Hilfsorganisationen, die seiner Familie durch diese schwere Zeit halfen, möchte er jetzt ein Leuchtfeuer der Hoffnung für die werden, die eine ähnlich schwere Zeit durchmachen. Auch außerhalb seiner Arbeitszeiten bei NRC Flüchtlingshilfe setzt er sich ein und arbeitet in seiner Freizeit als Mentor für Jugendliche.

Wie NRC Flüchtlingshilfe vertriebene Jugendliche in der Demokratischen Republik Kongo unterstützt

Viele Schulen in der Demokratischen Republik Kongo wurden während der anhaltenden Gewalt niedergebrannt oder werden nach wie vor als Notunterkünfte für Vertriebene benutzt. Viele Tausend Kinder und Jugendliche, die in Dörfer auf dem Land und in Flüchtlingslager vertrieben wurden, können nicht mehr zur Schule gehen und haben dadurch sowohl unmittelbar als auch langfristig schlechte Zukunftsaussichten. Ohne Erwachsene in ihrem Leben sind vertriebene Jugendliche ganz besonders auf die Unterstützung von NGOs wie NRC Flüchtlingshilfe angewiesen.

NRC Flüchtlingshilfe unterstützt sie durch maßgeschneiderte Aus- und Weiterbildungsprogramme. Durch diese Programme haben die Jugendlichen die Möglichkeit, aktive und engagierte Mitglieder ihrer Gemeinden zu sein.

Unsere Bildungsteams in der Demokratischen Republik Kongo:

  • stellen Lernmöglichkeiten zur Verfügung, damit Kinder, die die Schule abbrechen mussten, den Stoff nachholen, zu ihren Altersgenossen aufschließen und wieder ins formale Schulsystem integriert werden können
  • schützen Kinder und Jugendliche sowohl körperlich als auch psychisch, um ein Gefühl von Normalität und Alltag zu schaffen
  • schulen Lehrkräfte, Behörden und andere Bildungsakteure in Bezug auf psychosoziale Unterstützung, Friedenserziehung, Klassenmanagement, Vorbeugung von sexueller Ausbeutung und Missbrauch sowie verantwortungsvoller Schulführung
  • unterstützen den Wiederaufbau und Bau von Unterrichtsräumen
  • bieten Jugendlichen eine Ausbildung, um Fertigkeiten zu entwickeln, und führen sie ins Berufsleben

Lesen Sie hier mehr über unsere Arbeit in der Demokratischen Republik Kongo