Kamerun

Ein Land, drei Krisen

Seit mehreren Jahren wird die Bevölkerung Nordkameruns von der gewalttätigen Gruppe Boko Haram terrorisiert. Nun tobt auch im Südwesten und Nordwesten des Landes ein blutiger Konflikt. Eine halbe Million Menschen mussten fliehen. Die Angst nimmt zu. „Das ganze Land ist auf die eine oder andere Weise betroffen“, sagt Judith Tsafack-Sonné, die in Kamerun für NRC Flüchtlingshilfe arbeitet.

Von der Hauptstadt Jaunde drei Stunden mit dem Flugzeug Richtung Norden, dann zwei Stunden Fahrt über staubige Straßen. Judith Tsafack-Sonné, Programmleiterin bei NRC Flüchtlingshilfe, und ihre Kolleginnen und Kollegen haben eine lange Reise hinter sich – bis kurz vor die Grenze zu Nigeria – in eine Region, die seit 2014 von Boko Haram verwüstet wird. Fast 250.000 Menschen wurden dadurch Vertriebene im eigenen Land.

„Boko Haram kommt über die Grenze aus Nigeria, wo sie ihren Stützpunkt haben. Sie operieren auch im benachbarten Tschad und in Niger. Aber neben Nigeria ist Kamerun das Land, das am stärksten terrorisiert wird. Rund zwei Drittel ihrer Opfer sind in Nigeria und ein Drittel in Kamerun. Der Grad an Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft ist jedoch nicht vergleichbar. Sie konzentriert sich mehr auf Nigeria als auf Kamerun. Die Höhe der Finanzierung der Tschadsee-Krise bestätigt dies“, sagt Judith über eine schlechte Skype-Verbindung aus dem NRC Flüchtlingshilfe-Büro in Kousseri.

Judith Tsafack-Sonné ist Programmleiterin für NRC Flüchtlingshilfe in Kamerun. Zusammen mit ihrem Team reist sie in abgelegene und gefährliche Gebiete des Landes. Ihr Ziel ist es, so vielen von den 250.000 Binnenvertriebenen in Kamerun wie möglich zu helfen – und von den 100.000 Menschen, die ebenfalls vor der Gewalt nach Nigeria geflohen sind. Foto: Tiril Skarstein/NRC

Eine verlassene Region

Judith ist in Kamerun geboren und aufgewachsen. Sie hat bereits Erfahrungen bei anderen Hilfsorganisationen gesammelt. Seit Juni 2017 arbeitet sie für NRC Flüchtlingshilfe. In diesem Jahr eröffneten wir unsere Büros in Kamerun. Judith hat zum Aufbau unserer humanitären Arbeit beigetragen.

Derzeit ist sie in Kousseri in der Region Far North, um die Gebiete an der nigerianischen Grenze zu besuchen, wo wir uns auf die Arbeit mit Flüchtlingen und Binnenvertriebenen konzentrieren. Fotokol ist ein gefährliches Gebiet. Die humanitären Hilfskräfte müssen hier strenge Sicherheitsvorschriften befolgen.

„Was einem hier als Erstes auffällt, ist, dass viele Gegenden fast verlassen sind. Manche Schulen sind geschlossen oder von Armeesoldaten besetzt. Die Lehrkräfte sind wegen der unsicheren Lage geflohen. Die Menschen leben in notdürftig zusammengezimmerten Häusern. Es tut weh zu sehen, dass Kinder und Erwachsene gezwungen sind, unter solchen Umständen zu leben. Es gab aber auch eine Reihe von Menschen, die von NRC Flüchtlingshilfe Unterstützung erhalten haben, einschließlich Hilfe beim Wiederaufbau ihrer Häuser“, sagt Judith.
Früher überquerten die Menschen in dieser Region die Grenze nach Nigeria, um dort Waren zu kaufen und zu verkaufen. Es herrschte ein reger Handel und die Bevölkerung hatte etwas, wovon sie leben konnte. Jetzt bleiben sie einfach zu Hause.

Der Junge mit dem Traum

Eine Begegnung gab es, die Judith besonders beeindruckt hat:

„Im Dorf Adamari traf ich einen zehnjährigen Jungen namens Alhadji Djitsa. Er erzählte mir, er sei der Einzige im Dorf, der zur Schule gehe. Es ist eine sehr trockene Region und er muss weit laufen. Seine Augen waren entzündet, wahrscheinlich von all dem Staub.

„Wir flohen vor der Gewalt durch Boko Haram in Amchide [im Norden Kameruns] und leben jetzt seit fünf Jahren hier in Kourgui. Wir können nicht nach Hause, weil wir dann von Boko Haram angegriffen werden. Wir machen Matten, die wir versuchen zu verkaufen. Wir können es uns nicht leisten, alle unsere Kinder zur Schule zu schicken. Wir hätten gern Arbeit, damit wir uns selbst versorgen und die Schulgebühren für unsere Kinder bezahlen können“, sagt Adjana Mohamed. Foto: Tiril Skarstein/NRC

Der Junge sagte, er würde nicht aufgeben. Offensichtlich war es sehr wichtig für ihn, zur Schule zu gehen. Er sagte, er wolle Lehrer oder Arzt werden.

Diese Geschichte berührte uns so sehr, dass wir etwas tun wollten, um ihm den Schulweg zu erleichtern. Meine Kollegen und ich legten zusammen und kauften ihm ein Fahrrad. Außerdem gaben wir seinem Vater Geld, damit er den Jungen ins Krankenhaus bringen konnte“, sagt Judith.

Das Land nimmt sogar selbst Geflüchtete auf

Dieses wunderschöne Land hat eine 300 Kilometer lange Küste am Golf von Guinea und wird auch das Tor zu Zentralafrika genannt.

Bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre hatte Kamerun ein stetiges und starkes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen und galt als eine der wirtschaftlichen Erfolgsstorys Afrikas. Landwirtschaftliche Produktion, Holzexport und -industrie sind wichtige Bestandteile der Wirtschaft. Darüber hinaus ist Kamerun einer der größten Ölproduzenten Afrikas.

Der Konflikt in den Regionen South-West und North-West hat eine halbe Million Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen. Dieses Bild wurde in Buea in der Region South-West aufgenommen. Foto: Tiril Skarstein/NRC

Kamerun hat in den letzten Jahren auch selbst Geflüchtete aus mehreren Ländern wie Nigeria, Tschad, der Zentralafrikanischen Republik und Ruanda aufgenommen. Judith erklärt:

„Im Jahr 2013 kam eine große Anzahl Geflüchteter (fast 260.000) aus der Zentralafrikanischen Republik nach Kamerun. Diese Menschen haben sich in den Regionen East, North und Adamawa niedergelassen, welche zu den ärmsten Regionen Kameruns zählen. Die kamerunischen Gastgebergemeinden in diesen Regionen teilen das Wenige, das sie zum Überleben haben, mit den Geflüchteten. Die Lage in der Zentralafrikanischen Republik hat sich über die Jahre nicht nennenswert verbessert, sodass die meisten Flüchtlinge nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen. Sowohl die Geflüchteten als auch die kamerunische Bevölkerung haben diese Situation satt.“

Zwei Sprachen – zwei Systeme

Das Land ist zweisprachig. Die beiden offiziellen Amtssprachen sind Englisch und Französisch. Judith stammt aus dem französischsprachigen Teil.

Die Witwe Mary musste aus ihrem Dorf in der Region South-West fliehen und lebt nun im Wald bei Buea. Dieses Foto wurde während eines Treffens in einer Kirche in Buea aufgenommen. „Ich will Frieden und die Chance, nach Hause zu gehen. Warum sollten wir wie wilde Tiere im Busch leben müssen?“, fragt Mary verzweifelt. Ihr Haus wurde niedergebrannt. Der Wald ist nun der einzige Ort, an dem sie, ihre Kinder und Enkelkinder leben können. Foto: Tiril Skarstein/NRC

Zwei der zehn Regionen Kameruns sind englischsprachig: North-West und South-West. 80 Prozent der Bevölkerung leben in französischsprachigen, die restlichen 20 Prozent in den englischsprachigen Regionen.

Die sprachliche Teilung hat ihren Ursprung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als Kamerun deutsche Kolonie war. Als Deutschland den Krieg verlor, wurde Kamerun zwischen Frankreich und England aufgeteilt.

Es gibt zwei Rechtssysteme: das französische und das englische System. Auch zwei verschiedene Bildungssysteme gibt es: Englisch und Französisch.

Im Jahr 2016 fanden in den englischsprachigen Regionen energische Proteste gegen die Entsendung französischsprachiger Richter und Lehrer statt. Als die Proteste lauter wurden, wurden sie von den Sicherheitskräften so brutal niedergeschlagen, dass gewalttätige Kämpfe die Folge waren.

Mary zeigt ein Foto ihres Hauses vor dem Konflikt. Jetzt ist es niedergebrannt. „Alles, was wir hatten, ist verbrannt, selbst unsere Ausweispapiere und die Geburtsurkunden meiner Enkel. Wir konnten nichts mitnehmen, nicht einmal unsere Kleidung. Das Kleid, das ich jetzt trage, habe ich von jemandem bekommen, der mir helfen wollte“, sagt sie. Foto: Tiril Skarstein/NRC

Im Jahr 2017 erklärten nicht-staatliche bewaffnete Gruppen in den beiden Regionen offiziell ihre symbolische Unabhängigkeit von Kamerun und begannen, um die Sezession zu kämpfen. Dies brachte die Krise zum Eskalieren. Seitdem nehmen die Kämpfe zwischen der kamerunischen Armee und den bewaffneten Gruppen in beiden Regionen immer weiter zu.

Flucht in den Busch

Schließlich wurde die Lage in diesen Regionen kritisch. Die Menschen mussten fliehen, um ihr Leben zu retten. Die meisten flohen in die französischsprachigen Regionen West und Littoral. Viele retteten sich aber auch in den Busch. „Die Menschen verstecken sich dort, weil sie angegriffen wurden oder weil sie um ihr Leben fürchten. Manche sagen, dass sie von bewaffneten Gruppen angegriffen wurden, andere sagen, es sei die Armee gewesen. Manche sagen auch, sie wüssten nicht, wer sie angegriffen hat“, sagt Judith. Sie fährt fort:

„Man kann sich nicht vorstellen, wie es ist, im Busch zu leben. Die Menschen haben kein sauberes Wasser, keine Latrinen und keinen Zugang zu Hilfe. Sie haben nichts zu essen. Sie haben auch sonst nichts von den Dingen, die sie normalerweise auf dem Markt kaufen würden. Manche Frauen und Mädchen erzählten uns, dass sie aus Mangel an Binden Blätter benutzen mussten.“

Nachdem ihr Zuhause niedergebrannt war, floh Achu mit seiner Familie von Manya nach Buea. Achu ist Schneider und er ist froh, dass er wenigstens seine Nähmaschine mitnehmen konnte. So kann er seine Frau und seine Kinder versorgen. Foto: Tiril Skarstein/NRC

Manche Frauen bringen im Busch ihre Kinder zur Welt. Ihre schutzlosen Neugeborenen werden krank, da sie im Wald Insektenstichen und Malaria ausgesetzt sind.

NRC Flüchtlingshilfe leistet den Menschen, die von der Krise betroffen sind, seit August 2018 Hilfe. Wir verteilen Moskitonetze, Decken, Schlafmatten, landwirtschaftliche Werkzeuge und Utensilien für die Hühnerhaltung. Wir stellen den Vertriebenen Notunterkünfte zur Verfügung. Wir verteilen Hygienesets, einschließlich Monatshygiene für Frauen und Mädchen im gebärfähigen Alter.

Darüber hinaus schulen und unterstützen wir Wassermanagement-Komitees, errichten Not- und Familienlatrinen und führen Aktionen zur Hygieneförderung durch. NRC Flüchtlingshilfe arbeitet mit Hilfsorganisationen vor Ort zusammen, die bereits Entwicklungshilfe in diesen Regionen leisten. Humanitäre Hilfe ist für diese Organisationen ein recht neues Feld, weshalb wir ihnen die humanitären Prinzipien nähergebracht haben.

„Wir arbeiten zusammen, um den von der Krise betroffenen Menschen zu helfen. So können noch mehr von ihnen erreichen und hoffentlich auch diejenigen, die sich im Busch verstecken“, sagt Judith.

In Bamenda in der Region North-West treffen wir diese Frau. Sie floh vor einem mit ihrem Mann aus Belo. Heute kann sie wieder lächeln – weil sie Zwillinge bekommen hat und beide Kinder gesund sind. Foto: Itunu Kuku/NRC

Eine Krise, die jeden betrifft

Judith glaubt, dass großer Anlass zur Sorge besteht.

„Ich persönlich denke, dass die Krise alle Kamerunerinnen und Kameruner auf die eine oder andere Weise betrifft. Ich habe Freunde aus den englischsprachigen Regionen und weiß, inwiefern diese betroffen sind: Schulen wurden geschlossen, die Wirtschaft liegt brach. Wenn das Land so viel für Verteidigung ausgibt, geht das zulasten des sozialen Sektors, und das wiederum hat für jeden hier Auswirkungen. In manchen der großen Städte, die vertriebene Schülerinnen und Schüler aufgenommen haben, sind die Schulen zum Beispiel komplett überfüllt. Wenn in einem Klassenraum statt 55 oder 60 nun 150 Kinder sitzen, leidet natürlich die Qualität des Unterrichts“, sagt Judith.

Was bedeutet es für Judith, dass sie keine wirklichen Vor-Ort-Besuche in den zwei englischsprachigen Regionen durchführen kann, da sie aus einer französischsprachigen Region stammt?

Die Welt schweigt angesichts des humanitären Bedarfs

Sich im eigenen Land nicht frei bewegen zu können, fühlt sich nicht gut an. Es schränkt sowohl die Arbeit als auch das persönliche Leben ein.

„Es ist schön, unsere Maßnahmen mit dem Team im Büro zu besprechen, aber ich muss raus zu den Betroffenen und denjenigen, die wir unterstützen. Ich möchte persönlich mit ihnen darüber sprechen, welche Art von Unterstützung sie brauchen. Ich will sehen, ob wir alles richtig machen, ob wir noch mehr tun können oder ob wir etwas anders machen sollten.“

Auf die Frage, warum die Krise in Kamerun ihrer Meinung nach so wenig beachtet wird, antwortet Judith:

„Das liegt am mangelnden Interesse seitens der internationalen Gemeinschaft. Wir, die wir für Hilfsorganisationen und im humanitären Sektor arbeiten, haben die Welt aber auch nicht nachdrücklich genug auf diese Krise aufmerksam gemacht. Es war hilfreich, dass Jan Egeland, Generalsekretär von NRC Flüchtlingshilfe, kürzlich hier war. Das lenkte das mediale Interesse auf Kamerun.“

Großer Bedarf – wenig Geld

Judith muss unser Gespräch beenden und wieder an die Arbeit. Der Bedarf ist groß.

„Ich persönlich denke, dass die Krise alle Kamerunerinnen und Kameruner auf die eine oder andere Weise betrifft“, sagt Judith Tsafack-Sonné, Programmleiterin für NRC Flüchtlingshilfe in Kamerun. Foto: NRC

Länder, denen die Welt keine Aufmerksamkeit schenkt, erhalten auch kein Geld für humanitäre Hilfe. Mit mehr Geld könnte so viel mehr Menschen geholfen werden.

Nach seinem Besuch in Kamerun sagte Jan Egeland:

„Das internationale Schweigen über die Gräueltaten in Kamerun sind ebenso schockierend wie die vielen unerzählten Geschichten herzzerreißend.“

Hoffen wir, dass die Welt etwas unternimmt.