Mission impossible

Normalerweise lehnt Jan Egeland Anfragen für persönliche Interviews ab. Dieses Mal war er jedoch bereit, uns ein wenig über sich zu erzählen: was ihm schlaflose Nächte bereitet, über Holzfäller und wie alles mit einem Glas Milch und einer Nachrichtensendung begann.

„Normalerweise lehne ich solche Sachen ab, aber man muss Kollegen ja helfen“, sagt Jan Egeland lächelnd, während er mich in sein Büro bei NRC in Oslo führt.

Er kommt direkt von einem wichtigen Lunch. Bald werden die Journalisten beginnen anzurufen. Wir haben eine knappe halbe Stunde und schon bald wird klar, dass Jan Egeland auch in diesem Interview aus seiner Sicht als Idealist und Vertreter der humanitären Hilfe spricht.

Milch und die Abendnachrichten

Im Jahr 1976, im Alter von 19 Jahren, reiste er als freiwilliger humanitärer Helfer nach Kolumbien.

Ein international orientierter Junge aus der norwegischen Stadt Stavanger. Ein Gegner des Vietnamkriegs mit starkem Engagement für die Menschenrechtsarbeit. Er hatte eine Gruppe von Amnesty International gegründet, während er die Oberstufe der Stavanger Cathedral School besuchte. Jetzt war er auf der Suche nach einem Ort auf der Welt, an dem er sich nützlich machen konnte.

Eines Abends, als er nach dem Handballtraining zu Hause saß, machte er sich ein Brot mit norwegischem braunen Käse, goss sich ein Glas Milch ein und schaltete die Abendnachrichten an. Der Reporter sprach mit einem katholischen Priester in Kolumbien. Der Priester sagte: „Ich möchte norwegische Jugendliche einladen, sich hier in Kolumbien zusammen mit mir für soziale Gerechtigkeit einzusetzen.“

„Ich setzte mich einfach hin und schrieb ihm einen Brief“, erzählt Egeland. Heute, über 40 Jahre später, hat der 61-Jährige sein gesamtes Erwachsenenleben dem Ziel gewidmet, weltweit Menschen zu helfen, die unter Ungerechtigkeit, Kriegen und Konflikten leiden.

Er ist Generalsekretär der NRC Flüchtlingshilfe, international anerkannt und – dem norwegischen Komikerduo Ylvis zufolge – eine „peace keeping machine“, eine „Friedensmaschine“.

In einem Gebrauchtwagen von Kanada nach Zentralamerika

Aber es war in Kolumbien, wo alles begann. Oder vielmehr vor den Abendnachrichten im Wohnzimmer seines Elternhauses. Und der Priester beantwortete seinen Brief mit den Worten: „Ja, bitte komm.“

„Also ging ich. Zuerst fuhr ich mit ein paar Freunden in einem Gebrauchtwagen vom Norden Kanadas die ganze Strecke hinunter bis nach Panama, durch die USA, Mexiko und Zentralamerika. Dann fuhr ich allein weiter bis zu dieser Organisation in Kolumbien, um dort mit Padre Rafael Garcia Herreros und der Organisation El Minuto de Dios zusammenzuarbeiten.“

Jan Egeland besucht die DR Kongo im Jahr 2018. Foto: Alex McBride/NRC

Der sechsmonatige Aufenthalt reichte aus, um den 19-Jährigen davon zu überzeugen, dass er sich von nun an für Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzen wollte.

„Ich wollte etwas verändern. Ich wollte denen helfen, die schlechter dran waren als die normalen Leute in meiner Heimatstadt Stavanger. Ich wuchs in einem bürgerlichen Zuhause auf, aber meine Eltern hatten mir vom Krieg und den erbärmlichen 1930er Jahren in Norwegen erzählt und wie viel Glück ich hätte, in einer sicheren, wohlhabenden Gesellschaft zu leben. Also wollte ich einen Beitrag leisten und hoffte, international arbeiten zu können.“

Schwarz-Weiß und naiv

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Kriege sind ausgebrochen und Konflikte wurden beigelegt. Freunde wurden Feinde und Feinde wurden Freunde. Menschen wurden vertrieben und sind wieder nach Hause zurückgekehrt.

„Mein Weltbild hat sich verändert. Ich war damals wahrscheinlich ein bisschen naiv und dachte sehr schwarz-weiß. Ich dachte, die Befreiungsbewegungen, wie sie genannt wurden, seien ‚weiß’ und die Diktatoren ‚schwarz’. Jetzt kann ich mehr grau sehen. Aber was sich seit 40 Jahren nicht geändert hat, ist das Gefühl, dazu verpflichtet zu sein, für die Unterdrückten Partei zu ergreifen. Oftmals ist es Bösewicht gegen Bösewicht – diejenigen, die sich da bekriegen, sind einander ähnlicher, als sie je zugeben würden. Aber die Ungerechtigkeit gegenüber den Betroffenen, der Zivilbevölkerung, macht mich so wütend wie eh und je. Und das Bedürfnis, ihnen zu helfen und sie zu schützen, ist die gleiche.“

Heute ist es sein Job, genau darüber zu sprechen. Und er spricht ununterbrochen, bei der BBC, CNN und Al Jazeera, im Europäischen Parlament, im US-Senat und im Weißen Haus. „Die Finanzierung der humanitären Arbeit ist unverzichtbar, aber wir brauchen politische Lösungen, um die Konflikte zu beenden. Und die Verantwortlichen für diese Lösungen sind mächtige, wohlgenährte Männer in Anzügen und Uniformen“, sagt er wieder und wieder.

„Ich kann meine eigenen Reden oft nicht mehr hören, wirklich nicht. Ich habe sie schon so oft gehört. Aber die Botschaft verliert nie an Aktualität. Als humanitäre Helfer können wir Menschen am Leben erhalten. Wir können sie vor Leid und Elend bewahren und ihnen zu einem besseren Leben verhelfen. Denken Sie daran, es sind die Diplomaten, Politiker und Militärbeamten, die eine Trendwende von Krieg zu Frieden erreichen können. Wir haben Einfluss darauf, indem wir uns für friedliche Lösungen einsetzen. Wir können auf die Machthaber Druck ausüben, indem wir auf die Missstände aufmerksam machen. Es ist sehr motivierend zu sehen, dass wir etwas bewegen können, indem wir uns auf die vergessenen Katastrophen im Jemen, in Syrien, in der Demokratischen Republik Kongo und anderen Ländern konzentrieren.“

Die Finanzierung der humanitären Arbeit ist unverzichtbar, aber wir brauchen politische Lösungen, um die Konflikte zu beenden. Und die Verantwortlichen für diese Lösungen sind mächtige, wohlgenährte Männer in Anzügen und Uniformen.
Jan Egeland

Ein unfassbares Privileg

Und genau wie die Botschaft, die immer aktuell bleibt, ist Egeland heute genau so aufgebracht wie früher. Zu wissen, dass Vertriebene immer noch unter grausamer Gewalt, Belagerungen und Waffengebrauch leiden, bereitet Egeland schlaflose Nächte. Aber das Wissen, dass er dazu beiträgt, diesen Menschen tatsächlich zu helfen, treibt ihn an – jeden Tag.

„Es ist ein unfassbares Privileg, ein humanitärer Helfer zu sein, weil man sieht, dass man hilft. Wir sehen, dass wir etwas bewegen. Im letzten Jahr war ich im Jemen, in Syrien, im Kongo, in Venezuela, in Honduras und in der Zentralafrikanischen Republik, und ich bin schwer beeindruckt davon, was meine Kolleginnen und Kollegen dort leisten. Viele sind Einheimische, die rund um die Uhr arbeiten, oft an vorderster Front, und Menschen helfen, die in Hoffnungslosigkeit gefangen sind. Das ist meine Motivation: die Freude zu sehen, dass die Hilfe die Menschen in Not erreicht – und dass sie etwas bewirkt.“

Dennoch dauern einige Kriege jahrzehntelang an und es gibt Menschen, die für Generationen in einem Leben in Vertreibung festsitzen.

Wie ist es, Menschen zu begegnen, die keine Chance haben, wieder nach Hause zurückzukehren?

„Es ist sowohl entmutigend als auch bewegend, Menschen zu begegnen, die alles verloren haben. Im Kongo sprach ich mit vertriebenen Bauern. Alles, was sie hatten, waren eine kleine Hütte, ein paar Werkzeuge, ein paar Kleidungsstücke und ein kleines Stück Land. Dann kamen bewaffnete Gruppen und brannten alles nieder. Sie mussten um ihr Leben rennen und konnten gerade so entkommen. Jetzt helfen wir ihnen, etwas Neues aufzubauen – sie fangen bei Null an. Das ist unglaublich bedeutsam.“

Er sagt, es mache ihn stolz, die Arbeit von NRC in den Ländern zu sehen, die er besuche. Der schwierige Teil komme, wenn er von diesen Besuchen heimkehren müsse.

„Viele Leute denken, es müsse schrecklich sein, die Eindrücke und das Leiden zu sehen, zu riechen, aufzunehmen. Ich finde nicht, dass es schlimm ist, in den Flüchtlingslagern zu sein. Dort planen wir, wie wir noch mehr helfen und was wir besser machen können. Es ist tatsächlich ziemlich erbaulich. Was schlimm ist“, sagt Egeland, „ist das Abreisen.“

„Im Flugzeug zu sitzen und zu denken: ‚Ich fliege jetzt wieder nach Hause ins privilegierteste Land der Welt, und ich werde mit meinem Kindern Weihnachten feiern. Und es wird uns an nichts mangeln, während diejenigen, die alles verloren haben, weiterhin ein Leben in Ungewissheit führen.’ Das belastet mich heute noch genauso sehr wie vor 40 Jahren.“

Syrien-Mission

Von September 2015 bis November 2018 war Egeland, zusätzlich zu seiner Arbeit als NRC-Generalsekretär, Sonderberater des UN-Sonderbeauftragten für Syrien. Das war keine leichte Aufgabe.

„Neben der Leitung der größten humanitären Hilfsorganisation Nordeuropas gab es keinen Abend, kein Wochenende und keinen Feiertag, an dem ich nicht für die Syrien-Mission gearbeitet habe.“

Seine Aufgabe bestand darin, Russen, Amerikaner, Iraner, Saudi-Araber, Türken und andere, die Einfluss in Syrien haben, in zumindest dieser einen Hinsicht zur Zusammenarbeit zu bewegen – um sicherzustellen, dass die Hilfe die Frontlinien überschreiten und zu den Menschen in Not gelangen kann.

„Wir sind oft gescheitert, weil es nur Bitterkeit und Zwist gab. Aber wir hatten oftmals auch tatsächlich Erfolg und konnten die Machthabenden überzeugen, die humanitären Helfer der Vereinten Nationen und anderen Organistionen durchzulassen.“

Egeland war Anfang des Jahres selbst in Syrien. Die enorme Verwüstung schockierte ihn. „Wir fuhren durch die Gebiete östlich des Stadtzentrums von Damaskus. Die Fahrt dauerte viele Stunden und sahen überall nur massive Zerstörung. Das ist so, als würde man durch Oslo, Bergen, Trondheim und Stavanger, die vier größten Städte Norwegens, fahren, und alles, was man sieht, ist zerstört. Das zeigt, wie zerstörerisch dieser Krieg gewesen ist, und was für einer Feuerkraft die dicht besiedelten zivilen Gebiete ausgesetzt waren.“

Aber er erzählt, dass sich selbst unter der kriegsgebeutelten syrischen Bevölkerung ein vorsichtiger Optimismus auszubreiten beginnt.

„Tatsächlich gibt es einige, die hoffen, dass 2019 das Jahr wird, in dem sie mit dem Wiederaufbau beginnen und in dem die Vertriebenen langsam wieder nach Hause zurückkehren können.“

Es sind die Diplomaten, Politiker und Militärbeamten, die eine Trendwende von Krieg zu Frieden erreichen können. Wir haben Einfluss darauf, indem wir uns für friedliche Lösungen einsetzen. Wir können auf die Machthaber Druck ausüben, indem wir auf die Missstände aufmerksam machen.
Jan Egeland

Wir können dazu beitragen, etwas zu verbessern

Laut Egeland gibt es viele Orte, an denen wir den Negativtrend umkehren können. Die großen humanitären Krisen, wie die im Jemen und in Syrien, können gelöst werden. Und in den vergessenen oder vernachlässigten Krisen, wie in der Zentralafrikanischen Republik, in der DR Kongo, in Honduras und Venezuela, kann mehr humanitäre Arbeit viel bewegen.

Darum müssen wir in das, was auf der Welt passiert, eingreifen.

Jan Egeland besucht das Al-Abeen Hospital in Sana’a, Jemen, im Jahr 2017. Die humanitäre Krise im Land führt dazu, dass immer mehr untergewichtige Kinder geboren werden. Foto: Tuva Raanes Bogsnes/NRC

„Ob wir nun Christen oder Humanisten sind, ob unsere politischen Ansichten eher rechts oder links sind, wir glauben daran, dass es richtig ist, Menschen in Not zu helfen. Diejenigen, die die Mittel haben, sollten denen, die alles verloren haben, etwas geben. Das steht in Einklang mit unseren Idealen“, sagt er, und fährt fort:

„Es ist aber auch in unserem eigenen Interesse. Wenn man eine sicherere Welt für sich und seine Kinder möchte, mit weniger Krankheit und mehr Möglichkeiten zum Reisen, Handeln und Lösen der weltweiten Probleme, vom Klimawandel bis zur Abrüstung, dann kann man nicht zulassen, dass ganze Völker in so extremem Leid und Elend leben. Das führt zu Unruhe und Instabilität und das ist für uns alle gefährlich – selbst hier in diesem kleinen, privilegierten Land.“

Ein ruhiger Holzfäller

Er hat sich immer privilegiert gefühlt, seit er an den kolumbianischen Priester geschrieben hat. Privilegiert genug, um sich einen kurzen Urlaub von den Krisen der Welt nehmen zu können. Er feierte Weihnachten in seiner Hütte mit seinen Töchtern. In den norwegischen Bergen, weit weg von den Menschen, weit weg vom Rest der Welt lebt und atmet er fast 24 Stunden am Tag – jeden Tag. Vielleicht ist es gar nicht so merkwürdig, dass er ein abgeschiedeneres Leben gewählt hätte, wenn er eine ganz andere berufliche Laufbahn eingeschlagen hätte.

„Ich wäre tatsächlich gern Holzfäller“, lacht er. „Ich liebe es, mit Axt und Säge draußen im Wald zu sein. Das Problem ist nur, dass es so motorisiert geworden ist, und ich mag all den Lärm nicht. Aber wenn ich ein Holzfäller mit Pferd, Axt und Säge sein könnte, das würde mir Spaß machen.“

Und das ist genau das, was er tut, wenn er während der Feiertage in seiner Hütte ist. Aber jetzt ist Weihnachten vorbei und ein neues Jahr hat angefangen.

Haben Sie Vorsätze fürs neue Jahr?

„Ich versuche, ein besserer Mensch zu werden, das versuche ich immer. Aber mein Vorsatz ist einfach, im kommenden Jahr mehr für die vergessenen und vernachlässigten Krisen zu tun.“