Foto: Youssef Hammash/NRC

Gemeinsamer Brief zur Versorgung mit Impfstoffen für Palästinenser

Veröffentlicht 19. Feb. 2021
Der folgende gemeinsame Brief wurde heute von NRC und vier weiteren humanitären Organisationen verschickt, um die deutsche Regierung aufzufordern, sich gegenüber der Regierung Israels, den palästinensischen Behörden sowie Drittstaaten für den freien und gerechten Zugang und die Verteilung des Impfstoffs Covid-19 an die Palästinenser einzusetzen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir bitten Sie als humanitäre Organisationen, die im besetzten palästinensischen Gebiet arbeiten, freien und gerechten Zugang zu und Verteilung von Covid-19 Impfstoffen an die palästinensische Bevölkerung sicherzustellen, indem Sie sich gegenüber der Regierung Israels, den palästinensischen Behörden sowie Drittstaaten einsetzen, ihre jeweiligen rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen.

Entsprechende Empfehlungen finden Sie am Ende dieses Schreibens.

Prekäre gesundheitliche Lage

Das palästinensische Gesundheitssystem ist derart angegriffen, dass es weder über die notwendigen finanziellen noch materiellen Ressourcen für eine effektive Covid-19-Bekämpfung verfügt. Insbesondere das Gesundheitssystem in Gaza steht am Rande des Zusammenbruchs. Mehr als 53 Jahre israelischer militärischer Besatzung des palästinensischen Gebiets und Israels rigide Landabriegelung bzw. Blockade des Gazastreifens, durch die die Küstenenklave vom Westjordanland abgeschnitten ist, haben dazu beigetragen.

Im besetzten palästinensischen Gebiet sind bereits mehr als 2.100 Menschen[1] an den Folgen der Pandemie gestorben. Auf Gaza entfallen 28 Prozent aller aktiven Fälle, gefolgt vom Gouvernement Hebron im Westjordanland (15 Prozent) und dem Gouvernement Ostjerusalem (11,4 Prozent). Das Gesundheitspersonal ist von Covid-19 stark betroffen. Schätzungsweise 8.000 Menschen sind infiziert, was die Fähigkeit des Gesundheitssystems beeinträchtigt, die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten. Inzwischen werden die negativen humanitären Auswirkungen durch zunehmende Armut, Ernährungsunsicherheit und das durch die Pandemie verursachte Wegbrechen erheblicher Ressourcen aus anderen öffentlichen Grunddiensten weiter verstärkt.

Israels Verpflichtungen

Trotz Israels weltweit führender Position bei den Pro-Kopf-Impfungen wird 4,5 Millionen Palästinensern in der Westbank und im Gazastreifen der Zugang zu Covid-19-Impfungen weitestgehend verwehrt. Über 44 Prozent der israelischen Bevölkerung (4,07 Millionen Menschen) haben bereits eine erste Impfdosis und weitere 29 Prozent (2,67 Millionen Menschen) eine zweite Dosis erhalten[2]. Israelis, die im Westjordanland in völkerrechtswidrig errichteten Siedlungen wohnen, haben Zugang zu den Impfstoffen – ganz im Gegensatz zu den angrenzenden palästinensischen Dörfern und Gemeinschaften, die unter der direkten Kontrolle des israelischen Militärs stehen.

Artikel 56 des Vierten Genfer Abkommens verpflichtet eine Besatzungsmacht ausdrücklich zur „Einführung und Anwendung der notwendigen Vorbeugungs‑ und Vorsichtsmaßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten und Epidemien". Außerdem muss sie dies "mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln" und "in Zusammenarbeit mit den nationalen und örtlichen Behörden" tun. Gemäß seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen muss Israel auch das Recht auf Gesundheit der Bevölkerung im besetzten palästinensischen Gebiet ohne Diskriminierung respektieren, schützen und erfüllen.

Diese Verpflichtungen wurden kürzlich vom UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte im Palästinensischen Territorium, Herrn Michael Lynk, und der UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf körperliche und geistige Gesundheit, Frau Tlaleng Mofokeng, bekräftigt. Die Sonderberichterstatter*innen stellten fest, dass die Oslo-Abkommen Israel gemäß Artikel 47 des Vierten Genfer Abkommens nicht von seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen entbinden und betonten, dass "die letztgültige Verantwortung für die Gesundheitsversorgung“ bei der Besatzungsmacht verbleibt, „bis die Besatzung vollständig und endgültig beendet ist."[3] Trotz vereinzelter und begrenzter Anstrengungen, der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Impfstoffe zur Verfügung zu stellen, hat sich die israelische Regierung bisher geweigert, seine rechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf die Prävention und Bekämpfung von Covid-19 im besetzten palästinensischen Gebiet öffentlich anzuerkennen.

Bisherige Versorgung mit Impfstoffen unzureichend

Die israelische Regierung hat der Autonomiebehörde 2.000 Coronavirus-Impfstoffe zur Verfügung gestellt und angekündigt, bald weitere 3.000 Impfstoffe zu liefern. Dies reicht jedoch bei weitem nicht aus, um auch nur den dringendsten Bedarf zu decken, und ist nicht annähernd geeignet, um die Covid-19-Krise im besetzten palästinensischen Gebiet zu beenden oder Israels Verpflichtungen gemäß humanitärem Völkerrecht als Besatzungsmacht und damit als primärer Pflichtenträger zu erfüllen.

Die Palästinensische Autonomiebehörde wird über die Advance Market Commitments (AMC) der Gavi COVAX Fazilität Unterstützung in Form von Covid-19-Impfstoffen als Sachspenden erhalten, um 30 Prozent der Bevölkerung im besetzten palästinensischen Gebiet zu versorgen, wobei zunächst vorrangige Gruppen wie an vorderster Linie stehende Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen, ältere Menschen und Menschen mit hohen Gesundheitsrisiken berücksichtigt werden sollen. Finanzielle Engpässe, der Bedarf an "Kühlketten"-Lagerung und andere Engpässe stellen jedoch eine große Herausforderung dar, insbesondere im Gazastreifen. Diese Woche hat Israel die erste für medizinisches Personal im Gazastreifen bestimmte Lieferung von 2.000 Impfstoffen zunächst gestoppt[4]. Zwar genehmigte die Regierung den Transfer zwei Tage später, aber diese willkürliche Verzögerung illustriert Israels fragwürdige "Separationspolitik", die den Gazastreifen physisch vom Rest der OPT isoliert und das palästinensische Gesundheitssystem fragmentiert.

Ohne Impfungen kein Ende der Krise

Ein sicherer, wirksamer und universeller Covid-19-Impfstoff ist für die öffentliche Gesundheit sowie für die wirtschaftliche Erholung unabdingbar, seine Verfügbarkeit ist auch ein moralisches Gebot – im besetzten palästinensischen Gebiet und überall. Er ist auch Voraussetzung dafür, dass palästinensische Kinder, von denen viele keinen Zugang zu virtuellen Lernsystemen haben, ihre Schulbildung wieder aufnehmen können. Die Verteilung von lebensrettenden Impfstoffen muss in Übereinstimmung mit internationalem Recht und Normen erfolgen und sich an den Ratschlägen von Fachleuten aus dem öffentlichen Gesundheitswesen orientieren – und nicht an politischen Erwägungen. Internationale Verpflichtungen bezüglich des Rechts der Palästinenser*innen auf Gesundheit müssen erfüllt werden, einschließlich der Gewährleistung der Bewegungsfreiheit von Patient*innen und medizinischem Personal und der Beendigung der anhaltenden Angriffe auf palästinensische Gesundheitseinrichtungen. Das palästinensische Gesundheitssystem bedarf dringender Unterstützung, um den Anforderungen an die Pandemiebekämpfung gerecht zu werden, da nach wie vor ein chronischer Mangel an Persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Medikamenten, Einwegartikeln, Material zur Infektionskontrolle, Ausrüstung für Intensivstationen und Beatmungsgeräte sowie Kapazität zur Sauerstofferzeugung für Covid-19-Patienten besteht.

Eine Situation, in der nur Israelis Zugang zu einem Impfstoff haben, nicht aber Palästinenser, die unter Israels effektiver Kontrolle leben, ist zutiefst diskriminierend. Wenn nicht schnell gehandelt wird, werden sich die gesundheitsbezogene Ungleichheit zwischen Israelis und Palästinensern verschärfen, und die humanitäre Krise im besetzten palästinensischen Gebiet wird sich weiter verfestigen.

Empfehlungen:

Die israelische Regierung muss unverzüglich, öffentlich und vollständig ihre oberste Verantwortung als Besatzungsmacht für den ungehinderten Zugang aller Palästinenser*innen im besetzten palästinensischen Gebiet (OPT) zu Covid-19-Impfstoffen anerkennen. Dazu gehören auch Anstrengungen, um sicherzustellen, dass die Palästinensische Autonomiebehörde über angemessene Ressourcen verfügt, um diese ohne Verzögerung bereitstellen zu können. Sie muss aktiv bei der Erleichterung des Transports und des Zugangs von Impfstoffen im OPT, einschließlich des Gazastreifens, mitwirken. Sie muss auch den Zugang zu lebenswichtiger Ausrüstung garantieren, die für die Lagerung und die Verteilung der Impfstoffe im OPT benötigt wird. Dasselbe gilt für andere in diesem Zusammenhang benötigte medizinische Materialien, sofern die vorhandenen Vorräte nicht ausreichen. Sollten die palästinensischen Behörden und Israel nicht in der Lage sein, den Impfbedarf der palästinensischen Bevölkerung zu decken und externe Angebote zur Durchführung von Maßnahmen zur Covid-19-Bekämpfung und damit zusammenhängender humanitärer Hilfe vorliegen, muss Israel den schnellen und ungehinderten Transfer von humanitären Hilfsgütern, Ausrüstung und Personal erlauben und erleichtern.

Die Palästinensische Autonomiebehörde sollte nachdrücklich darauf hinweisen, dass die besatzungsbedingten Einschränkungen sowie die hohen Kosten der Impfstoffe ihre Fähigkeit beeinträchtigen, die palästinensische Bevölkerung im OPT aus eigener Kraft zu impfen. Sie sollte ihren spezifischen Bedarf an Impfstoffen öffentlich kundtun und im Rahmen des Möglichen alles dafür tun, um trotz der oben genannten Einschränkungen und Kosten ein gerechtes und umfassendes Impfprogramm für alle Menschen in der Westbank und im Gazastreifen durchzuführen. Israel, die Palästinensische Autonomiebehörde und die De-facto-Behörden im Gazastreifen müssen sich effektiv und ohne unzulässige politische Maßgaben untereinander abstimmen, um allen Menschen kostenlos und ohne jegliche Diskriminierung die benötigten Covid-19-Impfstoffe zur Verfügung zu stellen, wobei die am meisten bedürftigen oder gefährdeten Personen und Gemeinschaften Vorrang haben müssen. Gemäß den Richtlinien der WHO zu Covid-19-Impfstoffen, -Therapeutika und -Diagnostika sollte das in vorderster Linie arbeitende Gesundheitspersonal und das humanitäre Personal zu den vorrangig behandelten Gruppen gehören, da sie für die Impfung, Behandlung und kontinuierliche medizinische Grundversorgung der Bevölkerung unerlässlich sind und außerdem in engen Kontakt mit infizierten Personen kommen können.

Drittstaaten, Geber und internationale Organisationen müssen gemäß ihrer Verpflichtung, das Vierte Genfer Abkommen zu befolgen und für dessen Einhaltung zu sorgen, alle notwendigen Maßnahmen ergreifen[5], um sicherzustellen, dass die Regierung Israels ihren Pflichten als Besatzungsmacht nachkommt. Sie müssen den Aufbau eines unabhängigen palästinensischen Gesundheitssystems, einschließlich des palästinensischen Impfprogramms, wirksam unterstützen. Sie müssen ihre Bemühungen verstärken, die größten Hindernisse für die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit der palästinensischen Bevölkerung, wie etwa die militärische Besatzung, zu beseitigen. Sie müssen den Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Gütern zur Covid-19-Bekämpfung, einschließlich Impfstoffen, erleichtern. Sie müssen auch ihren Einfluss geltend machen, um sicherzustellen, dass die palästinensischen Behörden ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommen.

Mit freundlichen Grüßen

 

Shane Stevenson
Country Director
Oxfam, Occupied Palestinian Territory and Israel

Caroline Ort
Country Director
Norwegian Refugee Council

Ibrahim Ibraigheth
Country Director ActionAid Palestine
Occupied Palestinian Territory

Dr Aimee Shalan
Chief Executive Officer
Medical Aid for Palestinians

Jason Lee
Country Director
Save the Children, Occupied Palestinian Territory

Chris Whitman
Representative in Palestine & Israel
medico international