Gemüsemarkt, Bengasi Altstadt. Bild: UNOCHA / Giles Clarke

Libyenkonferenz: Echte Stabilität in Libyen nur durch Wiederherstellung der Lebensgrundlagen

Veröffentlicht 23. Jun 2021
Die Staats- und Regierungschef*innen der Welt müssen die Gelegenheit der Berliner Libyen-Konferenz in dieser Woche nutzen, um sich weiterhin für die humanitären Bedarfe der Bevölkerung einzusetzen, die seit mehr als einem Jahrzehnt keinen Frieden kennt, betonen heute vier in Libyen tätige Hilfsorganisationen.

Die internationale Libyen-Konferenz in Berlin wird heute (am 23. Juni) von der Bundesregierung und den Vereinten Nationen ausgerichtet. Mehr als sieben Monate nach einem fragilen Waffenstillstand und nur ein halbes Jahr vor den geplanten Wahlen ist das Ziel, den politischen Prozess in Libyen zu unterstützen und die Stabilisierungsbemühungen zu fördern.

„Die Stabilität Libyens wird nicht allein durch Wahlen oder den Abzug ausländischer Truppen zustande kommen“, sagt Dax Roque, der Landesdirektor des Norwegian Refugee Council in Libyen. „Echte Stabilität kann nur erreicht werden, wenn das Leben der einfachen Libyer*innen und der vielen Migrant*innen und Geflüchteten wiederaufgebaut wird. Die Diskussionen der hochrangigen Vertreter*innen werden zu kurz greifen, wenn sie nicht auch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und essenzieller Infrastruktur thematisieren.“ 

Ein vertriebener Libyer, der sich derzeit in Bengasi aufhält, sagt: „Das Erste, was wir von der internationalen Gemeinschaft brauchen, ist Frieden und Sicherheit. Selbst wenn wir nach Hause zurückkehren könnten, sind unsere Häuser zerstört und die wenige Hilfe, die wir erhalten, musste ich für Lebensmittel und Miete verwenden. Es wird nicht ausreichen, um mein Haus wiederaufzubauen.“ 

Nach einem Jahrzehnt der anhaltenden Krise ist jede*r fünfte Libyer*in – 1,3 Millionen Staatsangehörige, Migrant*innen und Geflüchtete – auf humanitäre Hilfe angewiesen, um Grundbedürfnisse zu decken. Die Zerstörung ganzer Städte und Ortschaften hat dazu geführt, dass 280.000 Menschen in beschädigten oder minderwertigen Unterkünften leben, die sie nicht selbst wiederaufbauen können. Weitere 245.000 Menschen, die durch den Konflikt vertrieben wurden, können nicht in ihre Häuser zurückkehren, unter anderem aufgrund nicht explodierter Munition. 

„Der immer wiederkehrende bewaffnete Konflikt hat explosive Kampfmittel hinterlassen. Deren Beseitigung wird Jahre dauern, um den Menschen eine sichere Rückkehr in ihre Häuser und ihre Lebensgrundlage zu ermöglichen. Seit Mai 2020 hat es mindestens 250 Opfer gegeben, und viele weitere sind wahrscheinlich nicht bekannt. Zehn Jahre Instabilität haben der Bevölkerung des Landes einen erheblichen Tribut abverlangt, doch die internationale Hilfe für Libyen hält mit den humanitären Bedürfnissen vor Ort nicht Schritt“, sagt Liam Kelly, der Landesdirektor von Danish Refugee Council in Libyen. 

Zwischen Januar und Mai 2020 gab es in Libyen die meisten Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen weltweit. Dies schwächt die Fähigkeit des libyschen Gesundheitssystems, die Bevölkerung zu versorgen, und bringt das Leben von Gesundheitspersonal und Patient*innen weiter in Gefahr. 

Die chronische Unterfinanzierung verschärft die Situation. Viele grundlegende Dienstleistungen stehen am Rande des Zusammenbruchs. Bis heute haben die internationalen Geber nur etwa ein Fünftel der benötigten Mittel für den UN-Hilfsplan für Libyen für 2021 zugesagt.

„Es wird geschätzt, dass mehr als eine Million Menschen in Libyen einen akuten gesundheitlichen Versorgungsbedarf haben. Da nur noch die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen funktioniert, ist das libysche Gesundheitssystem überlastet und hat Mühe, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Inmitten der weltweiten COVID-19-Pandemie muss die Stärkung des Gesundheitswesens mehr als nur ein nachträglicher Gedanke sein“, sagt Samy Guessabi, Länderrepräsentant in Libyen für Aktion gegen den Hunger.

Zu den am meisten gefährdeten Menschen in Libyen gehören Migrant*innen, Geflüchtete und Asylsuchende, die ernsthafte Gefährdungen und Menschenrechtsverletzungen erleben. Viele von ihnen sind seit der Flucht aus ihren Herkunftsländern systematischer und willkürlicher Inhaftierung, Ausbeutung, sexualisierter Gewalt und einer Vielzahl anderer Misshandlungen ausgesetzt. Derzeit werden mehr als fünftausend Migrant*innen, Geflüchtete und Asylsuchende unter oft missbräuchlichen Bedingungen in libyschen Haftanstalten festgehalten. In diesem Jahr wurde eine Rekordzahl von Migrant*innen und Geflüchteten auf See abgefangen und zwangsweise nach Libyen zurückgeschickt, obwohl die UN erklärt hat, dass Libyen kein sicherer Ort für die Ausschiffung ist.

Die vier Hilfsorganisationen warnen, dass die humanitären Bedürfnisse in Libyen nicht einfach verschwinden, selbst wenn die politische Dynamik anhält: „Zum ersten Mal seit vielen Jahren hat Libyen eine echte Chance auf Frieden und Stabilität“, sagt Tom Garofalo, der Landesdirektor von International Rescue Committee in Libyen. „Aber die Grundlagen für den Wiederaufbau Libyens sind extrem fragil. Die internationale Gemeinschaft muss diesen kritischen Moment in Berlin nutzen, um die unmittelbaren humanitären und längerfristigen Bedürfnisse aller Menschen in Libyen zu erfüllen. Wenn sie dies nicht tun, wird genau die Stabilität untergraben, die diese Konferenz einleiten will, und Hunderttausende von Menschen zurücklassen, die mit der möglicherweise jahrzehntelangen Aufgabe konfrontiert sind, ihr Leben wiederaufzubauen.“ 

Abschließend mahnen die Hilfsorganisationen, dass die Sicherung der Rechte von vertriebenen Libyer*innen sowie der großen Zahl an Migrant*innen und Geflüchteten – die ein wichtiger Teil der libyschen Wirtschaft sind – ebenfalls eine zentralere Rolle bei der Stabilisierung Libyens einnehmen muss. Diese Gruppen zu vernachlässigen wird zweifellos die Nachhaltigkeit der in Berlin erzielten Fortschritte gefährden.

Unterzeichnet von:

  • Aktion gegen den Hunger
  • Danish Refugee Council
  • International Rescue Committee Deutschland
  • NRC Flüchtlingshilfe Deutschland