Vergewaltigung als Kriegswaffe

Als der IS im August 2014 die kleine Stadt Sinjar eroberte, wurde dieses Mädchen zusammen mit Hunderten anderen gefangen genommen. Sie wurden ausgehungert, geschlagen, als Sexsklavinnen verkauft und zwangsverheiratet.

Ein paar Monate, nachdem Sinjar zurückerobert worden war, traf die kurdische Fotojournalistin Seivan Salim in einem Flüchtlingslager mehrere junge jesidische Mädchen. Die Mädchen waren aus der IS-Gefangenschaft geflohen und erzählen von Vergewaltigung, Gewalt und Sklaverei.

Die Geschichten waren so entsetzlich, dass Salim etwas tun musste. Sie musste die Welt über diese grausamen Verbrechen informieren.

Salim kleidete die Mädchen in Weiß, um ihre Reinheit zu demonstrieren – trotz allem, was der IS ihnen angetan hatte.

Zuerst bat sie die Mädchen aber, alles vor der Kamera zu erzählen.

Eins der Mädchen war Nadia Murad, Friedensnobelpreisträgerin 2018. Es war ihr erstes Interview überhaupt. Das Interview wurde noch nie zuvor veröffentlicht.

„Nadia bestand darauf, dass sie nicht anonym bleiben wolle, und weigerte sich, den Schleier zu tragen. Um sie schützen, habe ich ihr Gesicht trotzdem anonymisiert“, sagt Seivan Salim. Die Aufnahme entstand im Juli 2015, etwa acht Monate nach Nadias Flucht.

Nadia Murad beschloss, der Welt zu berichten, was sie durchgemacht hatte, und wurde anschließend zur UN-Botschafterin des guten Willens ernannt. Im Dezember wurde sie zusammen mit Dr. Denis Mukwege mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Der Angriff auf das jesidische Volk im Nordirak wurde als ethnische Säuberung und Völkermord bezeichnet.

Einige der Mädchen waren erst 12 Jahre alt. Viele wuschen sich nicht mehr, in der verzweifelten Hoffnung, dass die Männer das Verlangen, sie zu vergewaltigen, verlieren würden. Manche gaben auch vor, Mütter zu sein, weil die Täter es in erster Linie auf Jungfrauen abgesehen hatten.

„Sexuelle Übergriffe durch Terroristen und extremistische Gruppen scheinen zuzunehmen. Gleichzeitig hat die Welt für das, was wirklich passiert, die Augen geöffnet.“
Inger Skjelsbæk, Professorin am Friedensforschungsinstitut in Oslo

Schnelle Entwicklung

Auch wenn dieser Friedenspreis recht spät kommt, wäre das Thema Vergewaltigung als Kriegswaffe noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen. Wir waren der Ansicht, dass Vergewaltigung und Politik zwei komplett verschiedene Probleme seien. Die Entwicklung verlief schnell. Das ist auf den Druck mehrerer Länder, Organisationen und des Netzwerks von Schlüsselakteuren der Gesellschaft zurückzuführen“, sagt Inger Skjelsbæk, die seit über 20 Jahren Forschungen zum Thema Vergewaltigung als Kriegswaffe betreibt. Sie ist Forschungsprofessorin am Friedensforschungsinstitut in Oslo (PRIO) und Dozentin am Institut für Psychologie und Zentrum für Extremismusforschung der Universität Oslo. Darüber hinaus ist sie Abgeordnete des Nobelkomitees, hatte aber mit der Auszeichnung des vergangenen Jahres nichts zu tun.

 

Wachsende Besorgnis

Vor allem nach den Berichten über Massenvergewaltigungen von bosnischen Frauen während der Balkankriege in den 90er Jahren und des Völkermords in Ruanda (1994) wurde die internationale Gemeinschaft darauf aufmerksam. Dass sexueller Missbrauch vorsätzlich als Waffe eingesetzt wurde, um ganze Völker zu vernichten, Menschen zu terrorisieren und aus ihrer Heimat zu vertreiben. Dann kamen Berichte von den Kriegen in Ländern wie Ruanda, Osttimor, dem Sudan, Sierra Leone, Liberia und der Demokratischen Republik Kongo.

„Im Jahr 2008 wurde die Resolution 1820 von den Vereinten Nationen verabschiedet. Daraufhin wurde beschlossen, dass ein Sonderbeauftragter des Generalsekretärs jährlich einen Bericht über sexuellen Missbrauch in Kriegen und Konflikten verfassen sollte“, sagt Skjelsbæk. Sie sagt, in diesen Berichten sei eine wachsende Besorgnis über extremistische Gruppen erkennbar, in denen Vergewaltigungen offenbar zunähmen:

„Sowohl im Jahr 2017 als auch im letzten Bericht, der im März 2018 veröffentlicht wurde, ist dies offensichtlich. Es gibt zwei Gründe zur Besorgnis: erstens, dass die Extremisten einen ausgeprägten ideologischen Kampf gegen Werte wie die Gleichstellung der Geschlechter führen, was Frauen angreifbarer macht. Der zweite Grund ist, dass sie Vergewaltigung als Strategie benutzen, der ganz direkt Vorschub geleistet wird.“

„Und das“, sagt die Forscherin, „ist etwas völlig Neues.“ Denn selbst wenn man vor und während der Balkankriege über den Gebrauch von Vergewaltigung als Kriegswaffe sprach: Während der nachfolgenden Gerichtsverfahren wurde festgestellt, dass diese Missbräuche nicht unbedingt auf direkten Befehl begangen wurden. Sie wurden lediglich stillschweigend akzeptiert.

Im Jahr 2016 wurde Melanie in Burundi von einer Gruppe von Männern vergewaltigt. Die Täter flohen, als Passanten sie störten, entführten aber ihre 8-jährige Tochter. Derzeit ist Melanie in einem Flüchtlingslager in Tansania. Foto: UNHCR/Benjamin Loyseau

Einstellungswandel und Sanktionen

Vergewaltigung wird als Kriegswaffe eingesetzt, seit es Kriege auf der Erde gibt.

„Früher waren wir der Ansicht: ‚Vergewaltigung ist etwas, das in Kriegen unweigerlich passiert, weil Männer Männer sind, und solche Dinge eben passieren.’ Jetzt denken wir, dass Vergewaltigung ganz klar eine Kriegsstrategie und ein Kriegsverbrechen ist, dass den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit gefährdet. Und dass die durch einen Einstellungswandel und Strafverfolgung bekämpft werden kann.“
Inger Skjelsbæk, professor at PRIO

Sie liefert Beispiele aus der Geschichte: Als der Zweite Weltkrieg vorbei war, drangen sowjetische Truppen in Berlin ein. Viele russische, ukrainische und weißrussische Soldaten griffen deutsche Frauen an. Damals wurde Vergewaltigung als Nebenprodukt des Krieges angesehen. Sozusagen als Belohnung.

„Das steht im Gegensatz dazu, wie wir während der Balkankriege sprachen und dachten. Uns wurde klar, dass Vergewaltigung nicht als Belohnung, sondern als Mittel zur ethnischen Säuberung eingesetzt wurde“, sagt die Forscherin.

 

Das allgemeine Kriegsbild

Es ist bekannt, dass Vergewaltigung erhebliche körperliche und psychische Schäden verursacht. Auch für Männer, die Opfer von sexuellem Missbrauch sind, sind die Schäden schwerwiegend, und außerdem kann ihre reproduktive Gesundheit beeinträchtigt werden. Darüber hinaus müssen sowohl Männer als auch Frauen in sozialer Hinsicht dafür bezahlen: in Form eines Stigmas, das abhängig von ihrem Kulturkreis unterschiedlich sein kann. Es ist eine grausame Form von Gewalt.

„Wir dürfen nicht vergessen, dass dies in Kriegssituationen geschieht. Der sexuelle Übergriff ist daher nicht unbedingt das Schlimmste, was einem widerfährt.“
Inger Skjelsbæk, professor at PRIO

„Wenn man zusehen muss, wie das eigene Kind leidet oder getötet wird, ist das vermutlich ein weit größeres Trauma. Ich denke, wir müssen besser darin werden, über das Gesamtbild zu sprechen. Wir müssen bedenken, dass diese Frauen Überlebende sind. Sie können davon erzählen. Sie können kämpfen.“

 

Sich selbst verstehen

Wenn die Gesellschaft über Vergewaltigung als Kriegswaffe spricht, kann dies auch den Frauen erleichtern, über das Geschehene zu sprechen.

„Wenn Fragen über Schuld und Mitwirkung seitens der Frauen aufkommen, werden selbst in norwegischen Gerichten noch Fragen zum Verhalten und zur sexuellen Vorgeschichte der vergewaltigten Frau gestellt. Diese Beweisführung fällt weg, wenn wir Vergewaltigung als Kriegswaffe betrachten. Das kann eine therapeutische Wirkung für die Opfer haben, weil es ihnen eine andere Möglichkeit aufzeigt, sich selbst zu verstehen, was sehr wichtig sein kann“, sagt Skjelsbæk.

Sie sprach auch mit Therapeuten in Bosnien:

„Sie sagten, es sei sehr wichtig, im Therapieraum über die Frauen zu sprechen, als seien sie Kämpferinnen. Als seien sie gefallene Soldatinnen, nicht, als hätten sie ein großes Tabu erlebt, über das niemand spricht. In Bosnien sprach ich mit einer Frau, die zu mir sagte: ‚Was mir passiert ist, war nicht meine Schuld. Es war ein internationales Verbrechen.’“

Afghanistan. Foto: Andrew Quilty/NRC

Bedürfnisse der Mädchen erfüllen

„In Kriegen und Konflikten brauchen Frauen und Mädchen zusätzliche Hilfe. Weil sie die Letzten in der Reihe sind“, sagt Katia Urteaga Villanueva, Spezialistin für geschlechtsspezifische Gewalt der NRC-Expertengruppe NORCAP.

Peru, Kolumbien, Darfur, Burundi, Sahel, Jordanien und die Notlage in Syrien. Seit 18 Jahren arbeitet sie für verschiedene humanitäre Organisationen und begegnete in vielen Ländern Frauen und Mädchen, die im Krieg und anderen Krisensituationen sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Derzeit arbeitet sie für die NRC-Expertengruppe NORCAP.

„Ich bin davon überzeugt, dass wir damit beginnen müssen, die Einstellung der Menschen zu ändern. Die Leute müssen begreifen, dass Frauen und Mädchen genauso viel wert sind wie Männer und Jungen.“
Urteaga Villanueva, NORCAP-Expertin
Katia Urteaga Villanueva arbeitete von 2005 bis 2006 in Darfur. Das Foto zeigt sie mit einigen ihrer Kolleginnen. Foto: Privat

Mehrere Formen von sexuellem Missbrauch

„Wir müssen unser Verständnis von sexualisierter Gewalt erweitern. Sexualisierte Gewalt ist nicht nur, wenn man unter vorgehaltener Waffe vergewaltigt wird. Wenn man in einer Notsituation alles verloren hat und das Einzige, was man noch zu bieten hat, um zu überleben, Sex ist, dann hat man vielleicht keine andere Wahl als Sex gegen Lebensmittel, Schutz oder etwas anderes Lebensnotwendiges einzutauschen“, sagt Urteaga Villanueva und nennt als Beispiel die Ukraine.

„Unsere Partner, die in der Nähe der Kontaktlinie arbeiten, die die ukrainischen Streitkräfte von den separatistischen Rebellen trennt, haben berichtet, dass dort ganz offen verschiedene Arten sexualisierter Gewalt stattfinden. Es ist eine sehr arme Region und die Menschen, die dort leben, haben alles verloren, sind aber trotz des Konflikts geblieben. In dieser äußerst ungeschützten Situation sind sehr junge Mädchen, auch Minderjährige, diesem Druck ausgesetzt. Manche Männer sagen vielleicht: ‚Sie ist meine Freundin’. Aber wenn die Mädchen minderjährig sind, ist es Vergewaltigung.“

Urteaga Villanueva erklärt: „Wenn man verhungert, oder wenn die Menschen, die einem nahestehen, verhungern oder krank sind, und die einzige Möglichkeit, an Lebensmittel oder Medikamente zu kommen, ist, sie mit Sex zu kaufen… Dann müssen sie sich jeden Tag fragen: ‚Haben wir irgendetwas zu essen? Habe ich, was ich zum Überleben brauche?’“

„Das ist ebenso eine Form sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Unsere Aufgabe als humanitäre Helferinnen und Helfer ist es, ihren gleichberechtigten Zugang zu den Grundrechten, ihrer Würde und ihrem Schutz zu verbessern“, sagt sie.

Die Burundierin Samira wurde von einer Gruppe von Männern vergewaltigt. Dies geschah, als sie neben dem Leichnam ihres ermordeten Mannes lag. Die Soldaten, die ihn getötet hatten, sagten, es sei eine Vergeltung dafür, dass er die „falsche“ politische Partei unterstützt habe. Samira floh nach Tansania. Dieses Foto wurde im Jahr 2016 aufgenommen. Foto: UNHCR/ Benjamin Loyseau

Frauen müssen gestärkt werden

Die NORCAP-Fachleute für Gleichstellung und geschlechtsspezifische Gewalt unterstützen die Partner dabei zu verstehen, dass in Notsituationen nicht nur Nahrung und Medikamente gebraucht werden. Die Partner müssen sich auch mit den zugrunde liegenden Ursachen von geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt befassen, die die humanitäre Krise weiter verschärfen. Sie müssen sich dafür einsetzen, Frauen und Mädchen zu stärken, damit sie in diesen Krisen für sich selbst sorgen können.

„Damit Frauen und Mädchen ihre eigenen Entscheidungen treffen können, ohne sich weiterer Gewalt oder Diskriminierung auszusetzen.“

Urteaga Villanueva hält es für wichtig zu hinterfragen, woher diese Geschlechterungleichheit und die sexualisierte Gewalt eigentlich kommen. Weil sexualisierte Gewalt nicht nur opportunistisch ist, im Sinne von: ‚Du bist gerade allein, diese Gelegenheit werde ich nutzen’.

„Es ist etwas, das tief in unseren Gesellschaften verwurzelt ist. Diskriminierung von Frauen kommt auf der ganzen Welt vor.“

Konflikt- und Krisensituationen machen alles nur noch schlimmer. Mit jemandem, der mit einer Waffe über einem steht, kann man nicht über Gleichheit diskutieren:

„Wenn diese tief verwurzelte Diskriminierung Alltag ist und dann noch eine Krisensituation hinzukommt, in der die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind und einen nicht mehr schützen können, werden die bereits Verletzlichen noch verletzlicher“, sagt Urteaga Villanueva.

Wenn diese Frauen in Darfur es wagen, außerhalb des Flüchtlingslagers Feuerholz zu holen, laufen sie Gefahr, sexuell missbraucht zu werden. Das Foto wurde im Jahr 2006 aufgenommen. Foto: Katia Urteaga Villanueva

Brennholz holen kann gefährlich sein

Als sie in den Jahren 2005 und 2006 in Darfur arbeitete, sprach sie mit 80 bis 100 Frauen und Mädchen, die von illegalen bewaffneten Akteuren vergewaltigt worden waren. Die Angriffe fanden statt, wenn die Frauen das Lager verließen, in dem sie lebten – in den meisten Fällen, um Feuerholz zum Kochen zu holen. Urteaga Villanuevas Arbeit konzentrierte sich darauf, sich bei den Regierungsbehörden und den Vereinten Nationen für die Umsetzung verstärkter und wirksamerer Schutzmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt, insbesondere Vergewaltigung, einzusetzen. Einer ihrer Schlüsselpartner dabei war die NRC Flüchtlingshilfe, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Darfur aktiv war.

„Ich war sehr jung und sehr naiv und fragte die Mitglieder des Frauenkomitees im Lager: ‚Aber wenn ihr wisst, was anderen Frauen passiert, wenn sie das Lager verlassen, warum geht ihr dann trotzdem?’ Und sie antworteten: ‚Wenn unsere Männer hinausgehen, um Feuerholz zu holen, werden sie von den bewaffneten Gruppen getötet. Aber wenn wir Frauen gehen, werden wir «nur» vergewaltigt. Das ist besser, als dass unsere Männer getötet werden, denn dann wären wir allein und würden mit unseren Kindern auf der Straße enden.’“

Eins der schlimmsten Dinge in diesem Konflikt war die wiederholte Botschaft, die die Vergewaltiger den Gemeindeleitern durch die Überlebenden zukommen ließen.

Den vergewaltigten Frauen wurde von ihren Peinigern gesagt, sie sollten sich glücklich schätzen, denn jetzt hätten sie das Privileg, ein Kind mit einem anderen ethnischen Hintergrund zu haben. Oder sie sollten nach Hause gehen und ihren Männern sagen, dass sie nicht Manns genug gewesen seien, ihre Frauen zu beschützen.

„Solche Botschaften durch die von ihnen vergewaltigte Frau oder das Mädchen an die Gemeinde zu übermitteln, ist eine Kriegstaktik der Täter, die bewaffnete Männer sind. Sie wird eingesetzt, um das soziale Gefüge der Gemeinden und ihre Fähigkeit zu zerstören, sich der Gewalt zu widersetzen und den Konflikt zu überleben.“

„Darum sagen wir ‚Vergewaltigung als Kriegswaffe’, denn diese Art Krieg wird auf den Körpern der Frauen ausgetragen und hat enorme Folgen für das Überleben ihrer Gemeinden.“
Urteaga Villanueva, NORCAP-Expertin

Gutes-Tun-Webshop