Three internally displaced men sitting in front of make shift shelters in the grounds of Glory Primary School in Kalemie town in the Democratic Republic of the Congo. Photo: NRC/Christian Jepsen
Vergessene Konflikte

10 Gründe, warum wir Krisen nicht ignorieren dürfen

Humanitäre Krisen zu ignorieren, hat schwerwiegende und verheerende Folgen. Mehr Menschen sind zur Flucht gezwungen, Familien werden auseinander gerissen und ganze Gemeinden und Länder brechen auseinander.

Am 10. Juni wird NRC die jährliche Liste der vergessenen Krisen veröffentlichen. Die Liste basiert auf drei Kriterien: mangelnde finanzielle Unterstützung für die humanitäre Hilfe, geringe Medienpräsenz und politische und diplomatische Vernachlässigung.

Vertriebene befinden sich in einer äußerst prekären Lage und sind der internationalen Gemeinschaft, ihrem Heimatland und ihrem Gastgeberland ausgeliefert, wenn es darum geht, ihren Grundbedarf zu decken. Wenn diese scheitern, hat das verheerende Folgen.

Hier ist die Liste der vergessenen Krisen aus 2019. Am 10. Juni 2020 werden wir die neue Liste der vergessenen Krisen 2020 veröffentlichen.

Zehn Dinge, die Menschen und Gesellschaft betreffen, wenn Krisen vergessen werden

 

1. Mehr Menschen sind zur Flucht gezwungen

Krieg ist menschengemacht. Mangelnder politischer Wille zur Beilegung hat zur Folge, dass Konflikte immer weitergehen und damit immer mehr Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat zwingen. Anfang 2018 erreichte die Zahl der Vertriebenen das Rekordhoch von 68,5 Millionen. Davon haben 28,5 Millionen ihr Heimatland verlassen und in einem Nachbarland oder einem anderen Land Zuflucht gesucht. Anfang 2019 erreichte die Anzahl der Binnenvertriebenen 41,3 Millionen, so die Zahlen von NRC.

2. Mehr Menschen kommen bei der humanitären Hilfe zu kurz

Mit der zunehmenden Anzahl an schweren und langwierigen Krisen schwindet die Bereitschaft zu helfen. Der Bedarf übersteigt derzeit bei Weitem die Mittel, die von der internationalen Gemeinschaft bereitgestellt werden, um die Krisen zu bewältigen. Von 2016 bis 2019 wurden laut NRC durchschnittlich nur 60 Prozent der zur Deckung des Bedarfs benötigten Mittel tatsächlich aufgebracht. Zwischen 2007 und 2009 lag der Wert bei 72 Prozent. Dadurch verschärfen sich die Krisen und ziehen sich immer weiter in die Länge. Langfristig bedeutet es auch, dass Länder und Regionen weiter destabilisiert und die Möglichkeiten für Frieden und Versöhnung weiter eingeschränkt werden.

3. Mehr Geflüchtete und Migrierende sterben auf den gefährlichen Routen

Missachtung und mangelnde finanzielle Unterstützung humanitärer Krisen sowie der Mangel an Möglichkeiten, in anderen Ländern Asyl und Schutz zu suchen, zwingt Menschen zur verzweifelten Flucht aus ihrer Heimat. Wenn die Grenzen geschlossen sind, finden die Schlepper neue und noch gefährlichere Wege. Die internationale Organisation für Migration (IOM) berichtet, dass 1.555 Geflüchtete und Migrierende im Jahr 2018 auf einer dieser Routen ums Leben kamen oder als vermisst gemeldet wurden. Viele sind gezwungen, ihr Leben in die Hände von Menschenschmugglern zu legen, die kriminellen Netzwerken angehören. Laut Europol verdienten diese Schmugglerbanden im Jahr 2015 schätzungsweise 5 bis 6 Milliarden US-Dollar (4,5 bis 5,3 Milliarden Euro).

4. Verlorene Generationen

Wenn Krisen ignoriert werden, ziehen sie sich häufig in die Länge und vertriebenen Familien wird die Rückkehr nach Hause verweigert. Anfang 2018 waren zwei Drittel aller Geflüchteten auf der Welt seit mehr als fünf Jahren vertrieben, so das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Davon waren etwa 3 Millionen Menschen bereits seit mindestens 38 Jahren vertrieben.

Das bedeutet, dass Millionen von Kindern und ganze Generationen ein Leben als Geflüchtete führen. Der Syrien-Konflikt tobt bereits seit mehr als neun Jahren, während viele Geflüchtete aus Afghanistan bereits seit Jahrzehnten vertrieben sind. Geflüchtete aus der Westsahara leben seit Mitte der 70er Jahre in Flüchtlingslagern und viele Palästinenserinnen und Palästinenser leben sogar noch länger als Vertriebene.

5. Millionen Kinder werden staatenlos

Wenn Kinder in Vertreibung oder Exil geboren werden, besteht die Gefahr, dass sie staatenlos werden. Das kann bedeuten, dass sie grundlegende Rechte verlieren, wie etwa das Recht auf medizinische Versorgung, Bildung, Arbeit, Erwerb und Besitz von Eigentum oder Heirat.

Laut NRC gab es 2019 im Irak 45.000 Kinder, die möglicherweise ihre Staatsangehörigkeit verlieren könnten. Es handelt sich dabei um Kinder, die in Haft- oder Flüchtlingslagern leben, aber keine Ausweispapiere besitzen.

6. Millionen Kindern wird der Schulbesuch verweigert

Wenn wir Krisen ignorieren, betrifft das vor allem die Kinder. Zahlen der UNESCO aus 2016 zeigten, dass 263 Millionen Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 17 Jahren, die in Kriegs- und Konfliktgebieten leben, das Recht auf Bildung verweigert wird. Zugleich werden aber immer weniger Mittel bereitgestellt, um diese Kinder wieder zurück zur Schule schicken zu können.

Laut Angaben des UNHCR haben nur sechs von zehn Flüchtlingskindern Zugang zu Bildung und nur eins von hundert hat die Chance auf eine Hochschulbildung.

Wenn wir uns von diesen Kindern abwenden, könnte das verheerende Folgen haben. Viele Kinder laufen Gefahr, als Kindersoldaten rekrutiert zu werden, Opfer sexueller Gewalt zu werden oder als Kinderarbeiter oder Kinderbräute zu enden. Wenn wir ihnen den Rücken zuwenden, berauben wir diese Kinder der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

7. Mädchen werden sehr jung verheiratet

Wenn Familien vertrieben und zu einem Leben in Armut und Elend gezwungen werden, besteht für Mädchen eine erhöhte Gefahr, in sehr jungen Jahren verheiratet zu werden. Heute sehen wir, dass die Zahl der Kinderbräute in den vergessenen Krisen dramatisch zunimmt, auch unter den syrischen Geflüchteten in Jordanien, im Libanon, im Irak und in der Türkei. Eine 2016 durchgeführte Studie aus dem Libanon zeigte, dass vier von zehn syrischen geflüchteten Frauen zwischen 20 und 24 Jahren bereits vor dem 18. Lebensjahr verheiratet waren.

Die Eltern haben die Hoffnung, dass sowohl ihre eigene als auch die Familie ihrer Tochter finanziell abgesichert ist, wenn die Töchter verheiratet sind. Die Mädchen sind durch die Heirat außerdem besser geschützt. In einer chaotischen Flüchtlingssituation, wo nur wenige oder gar keine humanitären Hilfsorganisationen vor Ort sind, sind junge Mädchen besonders von Missbrauch bedroht.

8. Tausende Kinder sind traumatisiert

Wenn Krisen sich in die Länge ziehen, steigt auch die Gefahr, dass Kinder traumatisiert werden und unter psychischen Problemen leiden. Die seit elf Jahren bestehende Blockade des Gazastreifens durch Israel hat auf die Kinder starke Auswirkungen. Über die Hälfte der dort lebenden Kinder leiden unter psychischen Traumata, die durch den Krieg, die Besetzung und die Blockade ausgelöst wurden.

In Afghanistan wird berichtet, dass Kinder, die extreme Gewalt – einschließlich Mord und Missbrauch von Familienmitgliedern – mit angesehen haben, unter Gedächtnisverlust, Schlafproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten und aggressivem Verhalten leiden.

9. Tausende sterben an Unterernährung und Krankheiten

Wenn keine Hilfe kommt, sind Millionen Kinder von Unterernährung betroffen und Tausende Kinder sterben an Epidemien und Krankheiten, die leicht hätten behandelt werden können, hätten sie Zugang zu Medikamenten und medizinischer Hilfe gehabt. In Krisensituationen sind es immer die kleinen Kinder, die am schnellsten unter Mangelernährung leiden. In den überfüllten Flüchtlingslagern sind sie zudem sehr anfällig für Krankheiten, die sich rasch ausbreiten, wenn es an Gesundheitspersonal mangelt.

Im Jemen ist das öffentliche Gesundheitssystem zusammengebrochen und nur wenige können sich private Gesundheitsversorgung leisten. Tausende starben bereits an Krankheiten, die leicht behandelbar gewesen wären.

10. Missbrauch von Minderheiten und indigenen Völkern

Minderheiten und indigene Bevölkerungsgruppen sind in vergessenen Krisen besonders gefährdet und stellen in vielen Ländern eine überproportionale Zahl an Binnenvertriebenen dar. Gewalttätige Konflikte treten oft dort auf, wo sie aufgrund anhaltender Diskriminierung und des Wettlaufs um natürliche Ressourcen leben. Beispiele hierfür finden wir in Kolumbien, Indien, Myanmar und den Philippinen.

Minderheiten und indigene Völker werden von der Gesellschaft im Allgemeinen häufig vernachlässigt, was sich Konfliktsituationen nicht besser wird – im Gegenteil. Darüber hinaus leben sie oft in konfliktreichen und abgelegenen Regionen, in denen es sowohl für die humanitäre Hilfe als auch für die Presse schwierig sein kann, Zugang zu erhalten.