Im Alter von 16 Jahren wird Hanna* entführt. Sie wird ihrer Familie weggenommen, verkauft und zwangsverheiratet. Die Gemeinde vermutet, dass ihr eigener Bruder dahintersteckt – aus finanziellen Gründen.
Rückblick drei Jahre vor der Entführung:
In einer Stadt in der Nähe von Hannas Heimatdorf Malawi gründet eine NGO den Club „Young Women Can Do It“. Hier versammeln sich Jugendliche, um über die sozialen Barrieren, die junge Frauen und Mädchen von der Schule fernhalten, zu diskutieren und sie zu überwinden. Mit den richtigen Mitteln und der Unterstützung der Gemeinde können sie entscheiden, welche Laufbahn sie während und nach der Ausbildung einschlagen wollen.
Hanna, zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt, ist ein stilles, aber ambitioniertes Mädchen.
„Als Hanna zum ersten Mal in den Club kam, war sie sehr schüchtern“, erinnert sich Hamelmal Getachew, globale Spezialistin für wirtschaftliche Integration bei NRC Flüchtlingshilfe. „Sie musste immer ein wenig ermuntert werden, vor anderen zu sprechen oder überhaupt etwas zu sagen.“
Eins der Ziele des Clubs ist es, Hannas Stimme Gehör zu verschaffen.

Der Club gründet einen Lenkungsausschuss, der auf Grundlage der Vorschläge der gesamten Gruppe Entscheidungen treffen soll. Hanna ist eins der Ausschussmitglieder. Gemeinsam haben sie mehr Entscheidungsbefugnis als die Mitarbeitenden der NGO. Nun kann Hanna die Führung übernehmen, indem sie auf Bildungshindernisse hinweist und die Lösungen entwickelt, die ihrer Gemeinde den größten Nutzen bringen.
Nach Jahren der Mitarbeit im Club verliert sie ihre Ängste und gewinnt an Mut. „Sie fing an, ihre Meinung zu sagen, sogar noch mehr als die anderen“, sagt Hamelmal. Als angesehenes Mitglied des Clubs findet Hanna ihr Selbstvertrauen und ihre Stimme.
Zeitsprung.
Drei Jahre später ist Hanna eine junge Ehefrau. Alles, was sie sich aufgebaut hat, liegt in unerreichbarer Ferne – ihre Führungsrolle, ihr Zugang zu Bildung und ihre Zukunft.
Aber Hanna lässt sich nicht zum Schweigen bringen. Nach ihrer Entführung schafft sie es zurück in den Club – zurück zu ihren Freundinnen und ihrem sozialen Umfeld. Ihre Stimme ist laut und stark.
„’Ich kann mein Leben zum Positiven verändern. Ich kann für mich für mich selbst und meine Mitstreiterinnen einsetzen’, sagte Hanna immer wieder“, erzählt Hamelmal. „Der Club und das Projekt wurden aktiv. Auch die Polizei schritt ein.“
Menschen tragen unentdecktes Potenzial in sich. Manchmal muss man es nur wecken und ihm eine Plattform geben, um es zum Ausdruck zu bringen.Hamelmal
Dank des unglaublichen Einsatzes ihrer Mitstreiterinnen wird sie schließlich aus der Ehe befreit.
Alle Clubmitglieder helfen ihr, den versäumten Schulstoff nachzuholen. Hanna verfolgt ihre Ausbildung neben ihren Aktivitäten im Club noch zwei Jahre lang weiter. Sie setzt sich in einer Gemeinde für andere junge Frauen ein und erwirbt gleichzeitig ihren Schulabschluss.
Das Selbstvertrauen, das Hanna durch ihre Führungsrolle gewann, bewahrte sie vor einer Zukunft, die ihr beinahe aufgezwungen worden wäre. „Ein Projekt kann Menschen wirklich beflügeln“, sagt Hamelmal.
„Es geht nicht nur darum, materielle Dinge oder Geld zu verteilen. Es geht darum, Zeit zu investieren – um das Beste aus dem persönlichen Kontakt herauszuholen. Menschen tragen unentdecktes Potenzial in sich. Manchmal muss man es nur wecken und ihm eine Plattform geben, um es zum Ausdruck zu bringen.“

Geflüchtete am Tisch der Entscheidungsträger
Hamelmal Getachew war maßgeblich an der Koordinierung des “Women Can Do It”-Clubs beteiligt. In dieser Funktion arbeitete sie fünf Jahre lang mit Hanna zusammen.
Hamelmal blickt auf 14 Jahre Berufserfahrung im humanitären Bereich zurück. Dennoch erinnert sie sich an Hannas Entwicklung als eine der einschneidendsten. Sie hat ihr bewusst gemacht, wie wichtig es ist, dass junge Menschen die Möglichkeit haben, wichtige Entscheidungen über ihr Leben selbst zu treffen.
Heute arbeitet Hamelmal bei NRC Flüchtlingshilfe und hat sich durch Hannas Geschichte inspirieren lassen, eine neue Jugendinitiative mitzugestalten, die sich auf wirtschaftliche Integration von Jugendlichen konzentriert. Dieses neuartige Projekt ist darauf ausgerichtet, junge Flüchtlinge und Vertriebene dabei zu unterstützen, Führungsrollen zu übernehmen, damit sie ihre berufliche Zukunft selbst bestimmen können. Das Ziel: die Art und Weise, wie wir Partizipation verstehen und wie wir Vertriebene als wertvolle Wissensressource behandeln, zu verbessern.
Üblicherweise werden Menschen, die von Vertreibung betroffen sind, auf Grundlage ihres Bedarfs in Kategorien eingeteilt. Sie werden in der Regel von Mitarbeitenden von NGOs nach ihrem Bedarf befragt und diese entscheiden dann, welche Art von Unterstützung den größten Nutzen verspricht.
Während dieses Prozesses müssen ihre Aussagen darüber, was sie brauchen, angepasst werden, um den Finanzierungsvorschlägen und Erwartungen der Geber zu entsprechen. Dies führt häufig dazu, dass ihre Ideen nicht in vollem Umfang berücksichtigt werden.
Hamelmal ist davon überzeugt, dass diese Art von Partizipation die Betroffenen nicht in ausreichendem Maße einbezieht.
Wir müssen die Kontrolle abgeben. Das erreichen wir dadurch, dass die Geflüchteten Führungsrollen übernehmen.Hamelmal
„NGOs begreifen diese Befragungen häufig als Partizipation. Aber allzu oft betrachten wir sie mit unserem Profiblick und gehen davon aus, dass Jugendliche nicht wissen, was sie wollen, dass sie unsicher sind, was sie meinen, oder dass sie nicht wissen, wie man ein Protokoll befolgt“, sagt sie.
„Und nachdem wir sie einmal nach ihrem Bedarf gefragt haben, gehen wir nicht erneut auf sie zu, um mit ihnen zu sprechen und zu sehen, ob das, was sie bekommen haben, das Richtige war. Das ist nicht wirklich partizipativ oder fair dem Wissen der Betroffenen gegenüber.“
Das Problem mit dem „Bedarf“
Für Hamelmal beginnt das Problem schon beim Wort „Bedarf“, das Vertriebene sofort als passive Empfänger definiert. Sie findet, dass es einem besseren Ansatzpunkt gibt. „Wenn wir in Kategorien von Fähigkeiten und Potenzial denken, werden die Menschen zu Akteuren“, sagt sie. Das schafft Raum für die Umsetzung ihrer Ideen und Talente.
Ein Teil von Hamelmals Plan geht das Problem an, indem er junge Menschen an den Tisch der Entscheidungsträger bringt. Dies soll sowohl ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen als auch Vertrauen in ihre Meinungen schaffen. „Wir müssen die Kontrolle abgeben. Das erreichen wir dadurch, dass die Geflüchteten Führungsrollen übernehmen.“
Mit Blick auf Hannas Geschichte wird deutlich, wie erfolgreich die Übergabe von Verantwortung sein kann.

Der Plan: renovieren und revolutionieren
Die Jugendinitiative wird getestet, angepasst und in verschiedenen Regionen – so hofft Hamelmal – in der ganzen Welt eingeführt werden. Jetzt, wo das Projekt in die erste Phase geht, sind Hamelmal und ihre Kolleginnen und Kollegen bei NRC Flüchtlingshilfe, die es mitgestaltet haben, gespannt auf seine Auswirkungen auf das menschliche Potenzial.
Und so funktioniert es:
Zu Beginn sollen Jugendliche ihre eigenen Business-Projekte entwerfen und entscheiden, welche Wirtschaftszweige am besten zu ihnen und ihrer Gemeinde passen. Ob Landwirtschaft, Technik oder die Gründung eines lokalen Unternehmens, sie bestimmen selbst, was am besten passt.
Nachdem sie ihre Projekte ausgearbeitet haben, tragen sie sie dem Projektmanagement-Team vor. Das Team besteht aus Jugendlichen, einigen Mitgliedern der Gastgebergemeinde und lediglich zwei Mitarbeitenden von NRC Flüchtlingshilfe. Dieser runde Tisch von Entscheidungsträgern entscheidet dann gemeinsam, welche Projekte verwirklicht werden.
„Diese Plattform bringt alle an einen Tisch, um über die wirtschaftliche Zukunft junger Menschen zu beraten – und dieses Mal wird sie von den Jugendlichen selbst geleitet“, betont Hamelmal. Sie wird zum idealen Ort, an dem Menschen ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial demonstrieren und weiterentwickeln können. Die Jugend bekommt sozusagen ein Megafon in die Hand, damit ihre Stimme nicht überhört wird.
Durch die Bildung eines Kollektivs aus verschiedenen Perspektiven wollen Hamelmal und ihr Team mehr Raum für Frauen und Menschen mit Behinderungen schaffen, damit diese Führungsrollen übernehmen können. Das Projekt bietet außerdem die Chance, Vorurteile über jugendliche Geflüchtete in den Gastgebergemeinden abzubauen. Durch die Zusammenarbeit wird eine positivere Sicht auf die gemeinsame soziale Landschaft möglich.

Welche Aufgabe hat NRC Flüchtlingshilfe?
Üblicherweise bestimmt die NGO, was möglich ist und wie es gemacht wird. Hier sind es die Jugendlichen, die sonst oft nicht zu Wort kommen, die die Entscheidungen treffen dürfen. NRC Flüchtlingshilfe ist dazu da, ihre Entscheidungen zu unterstützen.
Die Mitarbeitenden von NRC Flüchtlingshilfe fungieren als technisches Team, das sie dabei unterstützt, ihre Ziele zu erreichen. Bei der Entwicklung ihrer Business-Projekte stehen wir ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Wenn die Projekte schließlich angenommen wurden, bieten wir den Jugendlichen gezielte Unternehmensschulungen, Startkapital und langfristiges Coaching an, um ihren Erfolg sicherzustellen.
“Wenn wir Flüchtlinge und vertriebene Jugendliche dabei unterstützen, ein Projekt zu verwirklichen, werden sie selbstständiger“, fährt Hamelmal fort. „Sie bekommen dadurch auch ein Gefühl der Eigenverantwortung – das Gefühl ‚Ich bin persönlich dafür verantwortlich’. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das von ihnen selbst gewählte Projekt fortbesteht und wiederholt werden kann, weil es ihnen Freude macht und sie die Fähigkeiten haben, es zum Erfolg zu führen.“

Welleneffekt
Um eine noch größere Wirkung zu erzielen, plant Hamelmal, ein breites Netz von Organisationen auf allen Ebenen miteinzubeziehen.
„Die meisten Organisationen teilen die traditionellen Denkmuster. Wenn wir wirklich etwas in den Köpfen der Menschen verändern wollen, müssen andere Flüchtlingslager, NGOs und übergeordnete Organisationen mit an Bord sein, um gemeinsam in allen Regionen Vertrauen und Gleichbehandlung aufzubauen“, sagt sie.
Hamelmal und ihr Team hoffen, dass die Zusammenarbeit, bei der die Ideen und die Selbstständigkeit Jugendlicher im Vordergrund steht, Wellen schlagen und im gesamten humanitären Sektor zu Veränderungen führen wird – angefangen beim Team von NRC Flüchtlingshilfe selbst.

Flexible Finanzierung macht’s möglich
Innovative Ideen auszuprobieren, erfordert häufig viele Versuche – das ist der spannende Teil! Da jedoch nur wenig Geld zur Verfügung steht, um Jugendliche an der Erarbeitung eigener Ideen zu beteiligen, sind Hamelmal und ihr Team begeistert, dass sie dank NRC Flüchtlingshilfe eine flexible Finanzierung in Anspruch nehmen können.
„Bei traditionellen Finanzierungsmodellen sind wir auf traditionelle Methoden beschränkt“, erklärt sie. „Aus diesem Grund ist eine flexible Finanzierung für innovatives Denken entscheidend. Natürlich ist es wichtig, einen Rahmen zu haben, innerhalb dessen man arbeiten kann. Aber es ist an der Zeit, sich von starren Denkmustern zu lösen und neue Wege zu finden. Dazu müssen wir bei den Menschen anfangen. Menschen sind nicht starr. Sie verändern sich – durch ihre Umgebung und neue Situationen. Um uns an diese Veränderungen anpassen zu können, brauchen wir Finanzierungsmodelle, die uns das ermöglichen.“
Wenn die Finanzierung den sich verändernden Rahmen der Menschen widerspiegelt, können wir die Menschen wirklich an erste Stelle setzen.
*Name geändert, um die Identität der Person zu schützen